Der Herr der Gezeiten

Abenteuer im Single-Haushalt: Hanno Millesi seziert den Alltag.

Wird in einem Roman fleißig gereist, muss von der Welt trotzdem nichts sichtbar werden, so wie bei regem Mordaufkommen mitunter letztlich gar nichts passiert. Umgekehrt kann auf 135 Seiten eigentlich nichts passieren und trotzdem ein verstörend großes Stück Welt sichtbar werden wie in Hanno Millesis neuem Buch, „Der Schmetterlingstrieb“.

Ein schreibendes Ich vermisst hier seine Wohnungsexistenz, und das hat nichts von selbstverliebter Nabelschau, vielmehr entsteht daraus ein Porträt der zeittypischen Existenzform im Singlehaushalt. Die etwa 50 kurzen Erkundungsprotokolle sind in vier Abschnitte geordnet, und wohlgeordnet präsentiert sich auch das Wohnambiente – nur die Fantasie des Erzählers sorgt für Schräglagen, auch das allerdings gern nach penibel erstellten Regelsystemen. Es geht um „La papillonne“, so teilt der Autor im Anhang mit, die Flatterhaftigkeit, nach Charles Fourier neben Streitlust und Begeisterung eine der drei sozialen Leidenschaften.

Von außen betrachtet, ist das Leben des Erzählers das Gegenteil von flatterhaft. Setzt er nicht gerade eine befreite Topfpflanze aus, ist er meist in seinen eigenen vier Wänden zugange. Situiert in einer großstädtischen Mietskaserne, zeigt sich dieses Heim je nach Stimmung als Ort der Geborgenheit oder Enge, die das Ich mit Kopfreisen und den Tagesablauf strukturierenden Aufgabenstellungen freilich jederzeit durchbricht.

Geben die Fenster in Lichthöfe und Häuserschluchten keinen Blick auf den Sternenhimmel frei, lässt sich die Enttäuschung darüber zum Sortieren der Wäsche nutzen, und flux entsteht aus vier „Sockenklumpen“ ein „windschiefes Viereck“, also der Große Wagen. Das ist der Auftakt, dem eine Spurensuche nach toten Insekten folgt, schließlich haben es auch die Mörder in den TV-Krimis meist eilig, die Leiche aus der Wohnung zu schaffen. Und nach Belieben spielt der Erzähler „Herr der Gezeiten“, indem er alle Waschbecken in einer bestimmten Abfolge füllt und leert, organisiert eine Séance mit Skihandschuhen und katalogisiert alle Schriftspuren an den Gegenständen seines Machtbereichs.

Verschwinden im Wäschekorb

Oft geht es um einen Perspektivenwechsel, topografisch oder existenziell. Mit Neugier und Argwohn beobachtet er das Altern der Wohnung wie seines Körpers und verschwindet mitunter in Kommode, Wäschekorb oder Schreibtisch. Dann wieder gilt es, Wohnung wie Mobiliar von unten zu beobachten, sich auf der mittleren Ebene von einem Zimmer zum anderen zu hanteln oder tageweise einen bestimmten Raum zum Zentrum zu erklären, um für Wohngerechtigkeit zu sorgen.

Denn Gefahr kann überall lauern; dass sich die Dinge tagsüber meist „kooperativ“ zeigen, und die Bedrohung verschwindet, sobald man ein Zimmer betritt, ist kein Beweis, dass es sie nicht gibt. Mitunter ist der Kampf mit dem Alltag auch überraschend „einfach und schnell“ zu gewinnen, etwa durch den Kauf eines neuen Brausekopfes. Mit ihm den Installateur zur Reparatur der Therme herbeizurufen, gelingt dann nicht in gleicher Weise. Erfolgreich verläuft hingegen der Versuch, versteckt unter dem Sofa den Kindheitstraum von der Tarnkappe zu realisieren, schließlich ist außer dem Erzähler niemand zugegen.

Jede dieser Versuchsanordnungen beschreibt Millesi mit größter Ernsthaftigkeit und sprachlicher Akkuratesse. Das verleiht den Psychoprotokollen ein großes Maß an Witz, der den ganz alltäglichen Wahnsinn unseres ganz normalen Alltags unter dem Sprachmikroskop seziert. ■

Hanno Millesi

Der Schmetterlingstrieb

Roman. 136 S., geb., € 18 (Edition Atelier, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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