Die Heimat als Fremde

In Essayform durchquert Klaus Nüchtern den „Kontinent Doderer“. Er legt Bezüge zu den Filmen Alfred Hitchcocks offen, analysiert die literaturtopografischen Konzepte in den Romanen und entdeckt die komischen Seiten des Autors.

Heimito von Doderer, wichtiger Repräsentant der österreichischen Nachkriegsliteratur, zählt zu jenen Autoren und Autorinnen, die zunehmend aus dem Kanon verschwinden. „Die Strudlhofstiege“ findet sich zwar auf den Leselisten germanistischer Institute, sofern dort die österreichische Literatur überhaupt noch eine Rolle spielt. Die Doderer-Forschung, maßgeblich vorangetrieben durch den Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler, beschränkt sich auf einen kleinen Kreis, der Editionen und aufschlussreiche Arbeiten, nicht zuletzt zu Doderers Verstrickungen in den Nationalsozialismus, vorgelegt hat. Doderer, dessen Konterfei im Juni 1957 das Cover des „Spiegel“ geziert hat, ist heute einer größeren Öffentlichkeit kaum mehr bekannt. Bereits wenige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1966 galt die Aufmerksamkeit Thomas Bernhard, der mit seinen Romanen und Theaterstücken die literarische Szene lange Zeit beherrschen sollte. Zugegeben: Doderers Œuvre ist umfänglich und komplex. Allein in den beiden großen Romanen „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ (1951) und „Die Dämonen“ (1956) finden sich 390 Figurennamen, 36 davon kommen in beiden Romanen vor.

2016 – zum 120. Geburtstag und 50. Todestag des Autors – ist Doderer wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Eva Menasse veröffentlichte eine Biografie im Deutschen Kunstverlag. Der Münchener C. H. Beck Verlag legte vier mit Nachworten versehene Sonderausgaben in einer Retroausstattung auf. Dort erschien auch Klaus Nüchterns Studie, die sich nicht als weitere biografische Annäherung versteht. Dem langjährigen Feuilletonchef und Kritiker der Wiener Wochenzeitung „Falter“ ist vielmehr daran gelegen, Lust auf eine Neu- oder Wiederlektüre der Romane Doderers zu machen, den er zu den bedeutendsten Großstadtromanciers des 20. Jahrhunderts zählt. Und dies ist auch glänzend gelungen.

In Essayform durchquert Klaus Nüchternseinen „Kontinent Doderer“; er legt etwa Bezüge zu den Filmen Alfred Hitchcocks offen, analysiert die literaturtopografischen Konzepte in den Romanen und entdeckt die komischen Seiten des Autors. Darüber hinaus stellt er als Orientierungshilfe ein umfängliches Who's who der wichtigsten Figuren zur Verfügung. Dies geschieht pointiert und mit Witz und steht dennoch fest auf wissenschaftlich fundiertem Boden. Der bekennende Doderer-Fan überblickt die Forschungsliteratur und verweist auch darauf – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die unter dem Vorwand einer vermeintlich besseren Lesbarkeit in der Praxis immer weiter zurückgedrängt wird.

Heimito von Doderer wurde am 5. September 1896 als sechstes und jüngstes Kind einer großbürgerlichen Familie in Hadersdorf-Weidlingau geboren. Nach der Matura am humanistischen Gymnasium Kundmanngasse in Wien III rückte er im April 1915 als Einjährig-Freiwilliger in das Niederösterreichische Dragoner-Regiment Friedrich August König von Sachsen Nr. 3 ein und geriet nach der Schlacht im galizischen Olesza im Juli 1916 in Kriegsgefangenschaft. In einer mehrwöchigen Bahnfahrt wurde der 19-jährige Fähnrich gemeinsam mit anderen Gefangenen durch ganz Sibirien ins Lager Krasnaja Retschka bei Chabarowsk verbracht, in dem 1100 Offiziere interniert waren.

Den Ort, nur wenige Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt, wird Doderer Jahrzehnte später als „eine Insel der Seligen“ und „ein Elysium“ beschreiben. Die Charakterisierung macht Staunen und gibt Einblick in eine privilegierte Situation, anders als die der rund 400.000 Kriegsgefangenen, die unter unmenschlichen Strapazen und Seuchen gelitten haben. Nach seiner Rückkehr im August 1920 hält Doderer in seinem Journal fest: „Ich glaube, die vier Jahre in Russland haben über mich entschieden. Ob jenes Resultat aus ihnen seine Giltigkeit behaupten wird – davon kann ich jetzt nichts wissen. Aber ich bin so ganz und gar nach dieser (inneren) Richtung hin organisiert worden, dassmir ein anderer Weg nicht mehr bleibt“ (Tagebücher, Band I, 12. November 1920).

Sibirien wird zum persönlichen Wendepunkt, zur symbolisch aufgeladenen Landschaft. Im Frühwerk finden sich bereits zahlreiche Begriffe, Figuren und Konstellationen, die später weiterentwickelt und ausgebaut werden. Schon hier zeigt sich avant la lettre die „Poetik des Raumes“ (Gaston Bachelard), die für Doderers Schreiben von zentraler Bedeutung wird. Wien wird zum Handlungsraum von Romanen und Erzählungen. Es geht dabei nicht um eine realistische Wiedergabe des Erfahrungsraums, nicht um verklärende Bilder längst vergangener Zeiten. In den Texten wird das Wissen über die Geschichte der Stadt mit raummythologischen Konzepten gepaart. Doderers Alter Ego,René von Stangeler, durchmisst Wien wie ein Flaneur; statt ins Ausland zu reisen, ergeht er sich in entlegenen Stadtteilen und taucht so in eine fremde Welt ein. Literatur wird zu einer Art Speicher, in dem Themen, Erinnerungen, Konflikte verdichtet werden.

Im Roman „Die Strudlhofstiege“ entwirft Doderer ein Gesellschaftspanorama rund um den ehemaligen k. u. k. Major Melzer, der nach dem Krieg als Amtsrat bei der Tabakregie tätig ist. Und im noch umfangreicheren Roman „Die Dämonen“ werden die Vorfälle um den Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927 geschildert. Nicht die „Masse“, die unbeherrschbare, manipulierte Menschenmenge, wird zum Untersuchungsobjekt, wie etwa bei Elias Canetti, sondern die Figur, die sich ihr entgegenstellt. Die komplexe Konstruktion beider Romane weist auf ein Ordnungsprinzip hin, das hartnäckig die Erzählbarkeit einer Lebenstotalität verfolgt. Die Vergeblichkeit dieses Bemühens klingt in den „Dämonen“ bereits an, im Roman „Die Merowinger oder Die totale Familie“ (1962) kippt dieses Ordnungssystem vollends ins Ironisch-Groteske.

Heimito von Doderer kam erst spät zu Ehren. 1957 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis, 1961 den Literaturpreis der Stadt Wien, 1966 den Wilhelm-Raabe-Preis und den Ehrenring der Stadt Wien. Am 23. Dezember desselben Jahres starb der Schriftsteller, der in seinen letzten Lebensjahren eine Art Klassiker zu Lebzeiten geworden war. Seinen Durchbruch verdankte Doderer übrigens der ausführlichen Besprechung der „Strudlhofstiege“ in der Zeitschrift „Der Monat“. Verfasserin war Hilde Spiel, die dem assimilierten jüdischen Bürgertum entstammte und 1936 nach London emigriert war. Das Buch hatte die im Exil Lebende tief erschüttert und bewegt. Hilde Spiel wurde – ungeachtet seiner Vergangenheit – zu Doderers maßgeblicher Mentorin. Sie kehrte erst 1963 dauerhaft nach Österreich zurück. ■

Klaus Nüchtern

Kontinent Doderer

Eine Durchquerung. 352 S., geb., € 28,80 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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