Und immer zu spät dran

Von den ersten Seiten an ist Almut Tina Schmidts Roman „Zeitverschiebung“ eine Reflexion über die Zeit. Und bis zum Ende ist er auch ein Text über das Hand- und Kopfwerk des Schreibens. Mit Könnerschaft und kompositorischem Geschick.

Einer jungen Frau, die befürchtet, mit ihrer Magisterarbeit nicht fertig zu werden, wird aufgrund eines ärztlichen Attests eine Verlängerung der Abgabefrist um vier Wochen zugestanden. Ein wenig vom Stress erlöst, unter dem sie in den vergangenenMonaten gelitten hat, beschließt sie, nun doch zur Hochzeit einer Freundin zu fahren, der sie, unter dem Eindruck immer größerer Zeitknappheit, bereits abgesagt hat.

Allerdings wird sie auch dorthin zu spät kommen – fast überallhin zu spät zu kommen, so gut wie immer ein wenig oder auch deutlich zu spät dran zu sein ist ihre fixe Idee. Doch bei der Hochzeitsparty, in der sie sich, wohl auch aufgrund ihrer Verspätung, etwas fehl am Platz fühlt, lernt sie einen Exfreund der Braut kennen, der, so hat es den Anschein, auch lieber früher als später wieder aus dieser Gesellschaft wegwill.

Die Gemeinschaft, in die die beiden in der Folge geraten, ist anfangs nichts anderes als eine pure Zweckgemeinschaft. Er sucht eine Mitfahrgelegenheit, die sie ihm bietet, obwohl er ihr mit seiner langsamen, fatalistischen Art auf die Nerven geht. Doch die Richtung, in der sie fahren muss, um zurück an ihren Schreibtisch zu kommen, ist eine Strecke lang auch die seine. Und sie, die im Lauf dieses Abends etwas zu viel getrunken hat, ist ganz froh, wenn es vorerst er ist, der fährt.

Mir fallen einige Autorinnen und Autoren ein, die aus dieser Konstellation einen netten Unterhaltungsroman schreiben würden. Almut Tina Schmidt, deren Roman gewiss auch unterhaltend ist – und diese Qualität sollte man keineswegs unterschätzen –, Almut Tina Schmidt macht mehr daraus, viel mehr. Von den ersten Seiten an ist dieser Roman eine Reflexion über die Zeit, deren Wesen darin besteht, zu vergehen, sich nicht anhalten zu lassen, immer schon schneller vergangen zu sein, als man geglaubt hat. Und bis zum Ende ist er auch ein Text über das Hand- und Kopfwerk des Schreibens.

Prokrastination (laut Wikipedia Erledigungsblockade, Aufschiebeverhalten), von manchen Wissenschaftlern auch Studentensyndrom genannt, ist ja keineswegs nur ein studentisches Problem. Es gibt nicht wenige Kolleginnen und Kollegen, die darunter leiden. Wahrscheinlich ist niemand von uns dagegen gefeit. Da nützen gute Vorsätze zur Selbstdisziplinierung oft gar nichts.

Was die Ich-Erzählerin schreibt und womit sie, dem Aufschub der Abgabefrist zum Trotz, nicht fertig zu werden fürchtet, ist eine Arbeit über Jack Kerouacs Roman „On the Road“, exemplarische Road Novel der Beat Generation und 1957 erschienen. Manifest in einem Schreibrausch von nur drei Wochen geschrieben, aber durch eine Latenzphase von zehn Jahren vorbereitet. Und nach den drei Wochen noch jahrelang überarbeitet. Was Kerouac nicht gehindert hat, letztlich eine Theorie spontaner Prosa zu entwickeln.

Logischer-, aber auch ironischerweise taucht dieser Text, Thema der Magisterarbeit der Protagonistin, im Roman immer wieder auf. Schon auf der nächtlichen Fahrt mit dem jungen Mann, der, was er allerdings nur beiläufig erwähnt, am nächsten Tag nach Amerika fliegen wird. „Ich schaute auf seine Turnschuhe und aufs Navigationsgerät und dachte an Kerouac. Und redete los. Über Amerika. Über Sehnsüchte und Reisen. Über Text und Leben und die Transformation von Leben in Text.“

Dieses Thema ist der Kommunikation zwischen den beiden, mit denen das Leben, wie es so spielt, später noch einiges vorhat, vorerst nicht zuträglich. Worum es denn überhaupt gehe, fragt der Typ – ist es möglich, dass er den von ihr mehrere Male genannten Namen Kerouac nicht richtig mitbekommen hat? Seinen Namen, den Namen dieses etwas sperrigen jungen Mannes, hat die junge Frau bis dahin allerdings auch nicht mitbekommen. Als er dann vor einem Reihenhaus am Stadtrand aussteigt, ist es definitiv zu spät, ihn noch danach zu fragen. Eigentlich ist das eine romantische Geschichte. Es hätte durchaus seinen Reiz, sie weiterzuerzählen: Wie die Protagonistin eine Woche danach spätnachts ein E-Mail von einem gewissen Jan bekommt. Und wie sich herausstellt, dass er – was für ein Zufall – in der Flughafenbuchhandlung auf ein Taschenbuchmängelexemplar von „On theRoad“ gestoßen, dann mit Verzögerung kapiert hat, wovon im Auto die Rede war. So genau wird er das allerdings erst später ausführen. In Klammern, deren Anwendung in diesem Buch Methode hat, kommt die Autorin gern auf Zukünftiges zu sprechen. Eine Methode, die nicht immer, aber häufig etwas von der Ironie der Geschichte, der Geschichten, die da erzählt werden, spürbar macht. Und die jeweilige Gegenwart, die sich zwischen Vergangenheit und Zukunft nie wirklich festhalten lässt, relativiert: Ja, mach nur einen Plan!

Stimmt schon, es wäre reizvoll, noch ein wenig weiterzuerzählen, bei einem Buch wie diesem ist die Versuchung dazu groß. Aber das Lesevergnügen, von dem allzu oft die Rede ist, das wahre Lesevergnügen besteht ja darin, sich von Zeile zu Zeile daran erfreuen zu dürfen, wie gut, wie gekonnt, wie raffiniert das gemacht ist. Und mit wie viel kompositorischem Geschick die Motive eingesetzt werden. In diesem Fall nicht nur das zentrale Motiv der Zeit, sondern auch das Motiv der Doppelgängerin.

Die Vorstellung, ein Zweit-Ich zu haben, das dann zum Beispiel an der Magisterarbeit weiterschreibt, während die erschöpfte Studentin schläft und von Kerouac träumt. Für einen Mann, den sie schon so lang zu kennen meint, ist er unerwartet attraktiv. Er reicht ihr die Hand, um ihren autobiografischen Pakt zu kündigen. Und sie wundert sich nur, dass er so gut Deutsch spricht. Die Vorstellung ein Zweit- oder Dritt-Ich zu haben, das sie dann auch zu einem Treffen mit dem aus Amerika zurückgekehrten Jan schicken könnte. Einer Wiederbegegnung, von der sie sich vorsichtshalber nicht zu viel erwartet. Weswegen sie natürlich zu spät am vereinbarten Ort eintrifft. Überraschung: Er kommt noch deutlich später.

Vor allem aber das Motiv der meist erst im Nachhinein begriffenen Ereignisse. Wie hinter der persönlichen Geschichte die sogenannte Zeitgeschichte abläuft. „Die wesentlichen Dinge passieren immer woanders“, heißt es schon im ersten Kapitel. Doch manchmal streift die Weltgeschichte den privaten Horizont.

„Aber greifen wir nicht zu weit vor“, zitiert die Autorin in einem der Mottos, die sie den einzelnen Textabschnitten ihres Romansvoranstellt, einen Satz aus Becketts „Warten auf Godot“. Eben. Auch diese Rezension soll nicht zu weit vorgreifen. Nur so viel sei verraten: Ich habe dieses Buch (ein anspruchsvolles, gescheites, passagenweise lustiges,aber am Ende noch sehr berührendes Buch) von der ersten bis zur letzten Seite spannend gefunden. Eines der besten, die ich in letzter Zeit gelesen habe. ■

Almut Tina Schmidt

Zeitverschiebung

Roman. 192 S., geb., € 19,90 (Droschl
Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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