Das Vaterland, eine Fiktion

Ein Venezuela-Roman, in dem sich alles um Hugo Chávez dreht und der ganz ohne Chávez auskommt: „Die letzten Tage des Comandante“ von Alberto Barrera Tyszka.

Der einzige Einwand, der sich gegen den ambitionierten Zeitroman des venezolanischen Autors Alberto Barrera Tyszka vorbringen lässt, richtet sich gegen seine stilistischen Grobheiten, die im Deutschen noch schärfer als im spanischen Original hervortreten.

Das ist nicht die Schuld des Übersetzers Matthias Strobel, der sich meinem Empfinden nach ohnehin bemüht hat, die ärgsten Schnitzer zu tilgen, sondern liegt an den Umständen, unter denen lateinamerikanische Literatur heutzutage entsteht: Anders als noch die Generation vor ihnen können die Schriftsteller nicht oder kaum auf Einnahmen aus Tätigkeiten in verwandten Berufen bauen, sondern müssen ganz vom eigenen Schreiben leben. Entsprechend groß ist der Schaffensdruck,hoch das Tempo, das sie sich selbst auferlegen. Stipendien sind selten, honorierte Lesungen unbekannt, die Literaturpreise, die es für Lateinamerikaner in Spanien zu gewinnen gibt – Barrera Tyszka hat für seinen Roman den Premio Tusquets verliehen bekommen – sind bloß Vorschüsse auf die Tantiemen. Dazu kommt, dass die Autoren sich an Bestsellerfabriken vom Typ Mario Vargas Llosa oder Isabel Allende orientieren, bei denen das Kalkül die Sprache verhunzt.

Aus den genannten Gründen stecken „Die letzten Tage des Comandante“ voll schiefer Bilder. Da „wogte ein Blick träge hin und her“, „strahlte ein Büro Effizienz aus“, „rasten hinter dem Vorhang der Nacht Autos über die Autobahn“, „hingen kleine dunkle Taschen wie alte Vorhänge unter den Augen“ eines Mannes, war „die endgültige Ohnmacht des Körpers festgezurrt auf dem Gesicht“ eines anderen. Wenn im Roman eine Frau mitten in der Nacht erwacht, sieht sie so lange nichts, bis „ihre Kurzsichtigkeit und ihre Hornhautverkrümmung zu einer Übereinkunft mit der Dunkelheit gelangen“.

Stil ist Haltung; trotzdem würde ich Barrera Tyszka von der Anklage der Haltlosigkeit freisprechen. Dabei nimmt er in seinem Roman, der in den beiden letzten Lebensjahren des charismatischen Präsidenten seines Landes, Hugo Chávez, spielt, keine klare Position ein, entwirft jedoch gerade durch den Verzicht auf Parteilichkeit ein Panorama der nationalen Gesellschaft, das auch heute noch, drei Jahre nach Chávez' Tod, gültig ist. Was man ihm als zweite Schwäche anrechnen könnte, dass seine Protagonisten – Frauen wie Männer – fast ausschließlich dem weißen Mittelstand angehören, rechtfertigt sich durch die Präzision, mit der Barrera Tyszka deren Klassendünkel und politische Hysterie schildert. Er denunziert sie nicht, er macht ihr Verhalten sogar begreiflich, legitimiert es aber nicht.

Erstaunlich ist sein Vermögen, einen Roman zu schreiben, in dem sich alles um Chávez dreht und der ganz ohne Chávez auskommt. Es geht dem Autor um den Riss, der seit Langem durch das Land geht, und beim Lesen wird einem klar, dass die Größe des verstorbenen Präsidenten gerade darin besteht, diese tiefe Zerrissenheit sichtbar gemacht – nicht: verursacht – zu haben. Für die Armen, die ihn trotz wachsender Kriminalität, Inflation und Warenknappheit immer wieder in seinem Amt bestätigt haben, verkörpert er die Sehnsucht, in ihrem Anspruch auf Würde endlich wahrgenommen zu werden, als Menschen, die nicht länger auf zwei Beine reduziert werden dürfen, mit denen sie Botendienste verrichten, zwei Arme, mit denen sie in den besseren Vierteln die Zufahrt betonieren und das Klo putzen.

Von daher rühren andererseits auch der Hass auf Hugo Chávez und die Begeisterung, mit der die Romanfiguren die Nachricht von seiner Krebserkrankung feiern: von einer umgekehrten Heilserwartung, derzufolge mit seinem Tod alles wieder so wird, wie es einmal gewesen ist. Das gemeine Volk zurückgedrängt auf die Hügel und Steilhänge hoch über Caracas, demütig oder indifferent, nicht frech aufbegehrend wie während der Herrschaft des schwärmerischen Caudillos, unter der sich die begüterte Oberschicht – wie das Gros des Romanpersonals – in ihrenLuxuswohnungen eingebunkert hat. Aber Barrera Tyszka lässt auch keinen Zweifel am Unvermögen des Präsidenten, die von ihm verkündete neue, sozialistische Ethik in die Praxis umzusetzen. Chávez hatte ein Sozialprogramm erlassen, das den Staatsapparat aufgebläht, die gesellschaftlichen Strukturen aber kaum verändert hat, und eine neue Bourgeoisie aus Günstlingen geschaffen, nicht mehr.

Oder doch: Mitten im Roman steht, etwas unvermittelt inmitten der Turbulenzen, von denen die Protagonisten erfasst werden, der Monolog einer Frau aus einem Armenviertel. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, jenen Tag, an dem ihr Vater, ein Tagelöhner, sie zu Maurerarbeiten in eine Villa mitgenommen hat. Es ist heiß, das Mädchen hat Durst, der Vater sagt, es soll die Hausangestellte um Wasser bitten. „Als ich in die Küche kam, war auch die Hausherrin da. Eine große weiße Frau, richtig elegant. Ich habe um mein Wasser gebeten, und Señora Carmen nahm ein Glas und ging zum Kühlschrank, um mir einzuschenken, aber die Hausherrin sagte Nein, nicht das Glas. ,Das sind unsere Gläser‘, sagte sie. Ich habe das Glas angeguckt, es war ein ganz normales Glas, nichts Besonderes. Die Hausherrin machte eine Vitrine auf, holte einen Plastikbecher heraus und gab ihn Señora Carmen. ,Geben Sie ihr das Wasser darin‘, sagte sie. Und lächelte mich an.“ Mit dieser Episode begründet die Frau, warum Chávez ihr Leben verändert hat: weil seine Person, seine Herkunft, sein Aussehen, sein Aufstieg, sein Selbstvertrauen sie gelehrt haben, „ich selbst zu sein und mich nicht zu schämen“.

Noch etwas spricht für diesen Roman: die Fähigkeit seines Verfassers, die Paradoxien im heutigen Venezuela aufzuzeigen. Die eben erwähnte Frau aus dem Armenviertel zum Beispiel hilft einer Rückkehrerin aus Miami, sich mit einem Trick Zutritt zu ihrer Eigentumswohnung zu verschaffen, deren Mieter seit Langem keinen Zins mehr zahlen und sich weigern, die Wohnung zu räumen. Ein unter Chávez erlassenes Gesetz macht es Eigentümern praktisch unmöglich, säumige Mieter loszuwerden; als Schutz für die Armen gedacht, kommt es letztlich den Schlaueren unter den Wohlhabenden zugute. Die bittere Ironie des Chavismus liegt darin, dass er den Bedürftigen, die er doch schützen will, nur die Wahl lässt, sich auf die Seite der einen oder der anderen Privilegierten zu schlagen.

Patria o Muerte („Vaterland oder Tod“) heißt Barrera Tyszkas Roman im Original. Er beweist, dass das Vaterland, anders als der Tod, in Venezuela nur eine Fiktion ist. ■

Alberto Barrera Tyszka

Die letzten Tage des Comandante

Roman. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. 250 S., geb., € 22,70 (Nagel & Kimche Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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