Was bedeutet Nation?

„The Habsburg Empire“: Pieter M. Judsons erfrischend neue Sicht auf die Vielfalt der Kronländer sowie die Krisen und Erfolge imperialer Integration.

Die europäische Integration steht vor einer ihrer größten Bewährungsproben. Das Auseinanderdriften der EU in nationalistische Strömungen, das fehlende Vertrauen der Bürger in europäische Institutionen sind die offensichtlichen Symptome dieser Zäsur. Das neue Buch des in Florenz tätigen US-Geschichtsprofessors Pieter M. Judson zeigt den Umgang des Habsburger-Reichs mit Ereignissen, die an die gegenwärtigen Verwerfungen erinnern. Und trotz des letztlich dramatischen Schicksals der Monarchie macht seine Geschichte Hoffnung.

Die Monarchie der Habsburger vereinte vor dem Ersten Weltkrieg unter ihrem Dach Territorien, die heute zwölf verschiedenen Staaten angehören. Jedes dieser Länder blickt, dem eigenen nationalen Selbstverständnis folgend, auf „seine“ Geschichte des Habsburger-Reichs. Der große Anspruch im Untertitel des Werks, diesen partikulären Geschichten ein neues Narrativ des Gesamtreichs entgegenzusetzen, stammt von seinemVerlag und nicht von Judson, wie er heuer bei einem Workshop in Wien rechtfertigend erläuterte. Dennoch gelingt es ihm, jenseits der nationalen Paradigmen umfassend eine frische Sicht auf die gemeinsamen Institutionen, Praktiken sowie kulturellen Herausforderungen des Habsburg Empire zu eröffnen. Diesem Credo verdankt sich auch, dass sich seine Epochengrenzen häufig mit jenen der Verfassungsgeschichte der Monarchie decken, die er in ihren wichtigsten Ereignissen ansprechend darstellt und kontextualisiert. Anders gesagt: Die Verfassungsgeschichte desHabsburger-Reichs liefert mehr als nur das chronologische Gerüst seiner großen Erzählung, sie bezeichnet auch die wesentlichen Momente der Integration der einzelnen Länder im Gesamtstaat.

Ausgehend von der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Regentschaft Maria Theresias schreitet Judson die Geschichte jener verfassungsrechtlich durch die Pragmatische Sanktion von 1713 verbundenen Länder bis zu dem Ende dieses Gefüges nach dem Ersten Weltkrieg ab. Dabei steht einerseits das Verhältnis der Kronländer zum Zentralstaat im Fokus. Andererseits ziehen sich die unterschiedlichen Ausformungen des Nationalismus in jeder Epoche des Reichs wie ein roter Faden durch sein Buch. Dabei bemüht sich Judson vorbildlich, in jeder Phase der Geschichte den Blick auf alle Gebiete des habsburgischen Imperiums zu behalten und die Semantik dessen, was „Nation“ und „Nationalismus“ jeweils bedeuten, herauszuarbeiten. Eine kleine Auswahl: Während im Ungarn des 18. Jahrhunderts „Nation“ vor allem mit dem im ungarischen Parlament vertretenen Adel zusammenhing und auch der polnische Nationalismus in Galizien bei den von Bauern niedergeschlagenen Aufständen 1846 ein elitäres Projekt verfolgte, verstand sich der deutsche Nationalismus in den 1860er-Jahren in erster Linie reichspatriotisch. Anders stellt Judson den tschechischen Nationalismus dar, der in der breiten Bevölkerung maßgeblich durch die Finanzierung nationalistischer Hilfsorganisationen zum Ende des Ersten Weltkriegs begünstigt wurde. Mit diesen differenzierten Studien zeigt der Autor auf, welche Bandbreite in scheinbar eindeutigen politischen Begriffen historisch enthalten ist.

Die großen Argumente seines Buchs bestehen in der revisionistischen These, dass nicht der Nationalismus, sondern der Erste Weltkrieg der Monarchie die entscheidende Legitimitätskrise und das Ende brachte. Außerdem waren die Nationalismen in den habsburgischen Kronländern eng mit den imperialen Strukturen verknüpft. Als eindrückliches Exempel bleibt die mit der Ausweitung der Staatsaufgaben ab 1880 zunehmende Verbundenheit der Menschen mit dem Reich in Erinnerung. Diese führte zu Massenmobilisierungen und fand im Nationalismus ein Bindemittel für die ideologisch oftmals diversen Interessen.

Zur Rechtfertigung seiner Thesen bereitet Judson den Inhalt sehr bedacht auf. Dem Pessimismus mancher Teile der bürokratischen und militärischen Eliten über dieZukunft des Imperiums (Graf Oswald Thun-Salm 1898: „In unserem Land muss ein Optimist Selbstmord begehen“) setzt er etwa die Überlegungen des Rechtsprofessors Karl Lamp über die Eingliederung von Bosnien und Herzegowina entgegen. Diese stehen paradigmatisch für die lebhaften Reformbestrebungen im Reich, das keineswegs vor nationalistischen Strömungen resigniert hat. Auch das nach Kronprinz Rudolf benannte „Kronprinzenwerk“, das die biologische, geologische, kulturelle Vielfalt der Kronländer dokumentiert, nimmt Judson als Beleg für die Stärke der Monarchie, die sich ihrer eigenen Diversität erfreute.

Da Judson seine Beispiele geschickt inszeniert, entsteht jedoch der Eindruck einer gewissen Apodiktik und zeitweilig einer Willkürlichkeit, mit der er seine Überlegungen vorträgt. Dies ist auch seiner Auffassung der sogenannten Nationalitätenkonflikte geschuldet, die er zu Konflikten von Nationalisten umdeutet. Deshalb erscheinen diese Auseinandersetzungen auch vornehmlich als ein Phänomen innerhalb der Eliten, wohingegen er die breite Bevölkerung oftmals als bloß opportun handelnd interpretiert, wenn sie nationalistischen Parolen folgt. Seine Ausführungen widmen sich kaum den nationalistischen Stimmungen im Bürgertum oder in weiteren Bevölkerungskreisen. Hingegen findet die Modernisierungskraft des Imperiums in Infrastruktur, Bildung, Handel ausgiebig Beachtung. Judsons Wohlwollen der Dynastiegegenüber verleitet ihn möglicherweise auch dazu, jene Eliten als anachronistisch zu bezeichnen, die den Vielvölkerstaat 1914 bereitsabgeschrieben haben. In diesem schwarz-weißen Porträt scheinen einige Graustufen verloren gegangen zu sein.

Judsons neuer Blick auf das Habsburger-Reich ist erfrischend, ansprechend und fundiert. Es wird abzuwarten sein, wie dieses bisher nur auf Englisch erschienene Buch in all den Ländern der ehemaligen Habsburger-Monarchie angenommen wird. Die Interpretationsmöglichkeiten, die in dem Werk stecken, drängen Analogien zu aktuellen Krisen der europäischen Integration auf. Mit Judson könnte argumentiert werden, dass Kreativität und Pragmatismus Krisen erfolgreicher meistern als Hauruckaktionen aus ideologischem Verdruss. ■

Pieter M. Judson

The Habsburg Empire

A New History. 480 S., geb., € 38,70
(The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge/Massachusetts)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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