Von Suez bis zum Rock 'n' Roll

Martin Luther King und die Bürgerrechte, Chruschtschow und seine Anklage gegen Stalin, Aufstand in Ungarn, Suezkrise, Generationenrevolte. „1956“: Simon Halls spannende Globalgeschichte über ein Jahr des Aufruhrs.

Am 1. Jänner 1956 hielt die „New York Times“ in einem Leitartikel fest: „Man kann für dieses Jahr mit sehr viel mehr Recht als früher sagen, dass die Zukunft vom Mut, von der Entschlossenheit und der Kraft demokratisch gesinnter Menschen abhängt.“ Das war keine so gewagte Aussage, denn Mut, Entschlossenheit und die Kraft von Demokraten sind für den Lauf der Dinge immer mitentscheidend.

Aber dieses Jahr 1956 war schon ein besonderes, es war ein Jahr des globalen Aufruhrs. Und so konnte Martin Luther King zum Jahresende 1956 die Entwicklungen zusammenfassen: „Auf der ganzen Welt rebellieren Menschen. Die Bemühungen um die Unabhängigkeit in Afrika, der Todeskampf der Ungarn gegen den Kommunismus und das entschiedene Drängen der amerikanischen Schwarzen, als Bürger erster Klasse anerkannt zu werden, sind untrennbar miteinander verbunden.“

Martin Luther King war ein Meister darin, so beschreibt es der englische Historiker Simon Hall in seiner Globalgeschichte des Jahres 1956, die Ereignisse in der Welt miteinander zu verknüpfen und so die eigenen Anliegen voranzubringen. Genauso wie die Befürworter der Rassentrennung im Süden der USA und in Südafrika den damaligen Antikommunismus in der westlichen Welt als Propagandamittel zur Rechtfertigung für ihre eigene Sturheit entdeckten, indem sie den Kampf der Schwarzen um Gleichberechtigung als „rote Verschwörung“ brandmarkten, genauso verankerte King die Frage der Bürgerrechte in den USA mit dem globalen Kampf farbiger Menschen für Würde und Selbstbestimmung: „Wir sind ein Teil dieser großartigen Bewegung.“

Höchst lesenswert ist diese Aufstandsgeschichte des Jahres 1956 gerade darum, weil Simon Hall Kings globalem Ansatz folgt. Er strukturiert sein Buch nach den vier Jahreszeiten und folgt so dem Verlauf des Geschehens in den verschiedenen Erdteilen.

Natürlich verbindet ein Mitteleuropäer dieses Schicksalsjahr mit den Ereignissen im Herbst in Ungarn, und auch Hall widmet dem dortigen Aufstand vier Kapitel, in denen er den neuesten Forschungsstand gut zusammenfasst. Aber ausgelöst hat die Revolte in Ungarn wie schon ein paar Monate davor die Rebellion in Polen ein Ereignis im Frühjahr in Moskau: die Rede von KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow am 25. Februar beim 20. Parteitag, „Über den Personenkult und seine Folgen“.

Es gibt vermutlich nur wenige Politikeransprachen in der Weltgeschichte, die derart weitreichende Folgen haben. Der sowjetische Historiker Roy A. Medwedew verglich die Rede mit „der Explosion einer Neutronenbombe – mit Auswirkungen auf die Menschen, wohingegen die Strukturen anscheinend intakt blieben“. Grundlage dieser Rede war ein Gutachten des KP-Präsidiums, wonach während der Stalin-Herrschaft allein in den Jahren von 1935 bis 1940 rund 1,9 Millionen Sowjetbürger verhaftet, 700.000 erschossen, unzählige Verschwörungen als Gehirngespinste des Diktators entlarvt wurden.

Chruschtschow entschärfte seine Anklage vor den Genossen dann etwas, ging auf die Millionen Opfer der Zwangskollektivierung und der forcierten Industrialisierung vor 1935 nicht ein – wohl, weil er in Zusammenhang mit Zwangsdeportationen und Massenverhaftungen selbst genug Dreck am Stecken hatte: „Eine umfassende und wahrheitsgemäße Enthüllung der Vergangenheit hätte nicht nur Chruschtschows eigene Stellung sowie der meisten, wenn nicht aller seiner Kollegen ins Wanken gebracht, sie hätte sich sehr wahrscheinlich auch auf die UdSSR insgesamt zerstörerisch ausgewirkt“, erklärt Hall die Zurückhaltung des KPdSU-Chefs.

Obwohl diese Rede eigentlich geheim bleiben sollte, wurde ihr Inhalt bald bekannt. Schon im März kam es im georgischen Tiflis zu prostalinistischen Demonstrationen. Tagelange gewaltsame Zusammenstöße forderten mehr als 300 Tote und 1000 Verletzte. Zeitverzögert ging es in den Satellitenstaaten los, nachdem Chruschtschows Abrechnung mit Stalin bekannt geworden war: Der Aufstand im polnischen Posen und seine Niederschlagung im Juni forderten 73 Tote und 400 Verletzte, 600 Personen wurden verhaftet und misshandelt.

Wobei der eingeleitete Entstalinisierungsprozess nicht alleinige Ursache der Posener Revolte war, mindestens ebenso wichtig waren die Unzufriedenheit der Massen mit der wirtschaftlichen sowie sozialen Lage und der Antisowjetismus. Das galt auch für den Aufstand in Ungarn im Oktober/November, der mit 2700 Toten und 20.000 verwundeten Ungarn sowie 720 getöteten und 1540 verwundeten Sowjetsoldaten endete.

Geschickt flicht Hall zwischen das Geschehen in Mittelosteuropa die Kapitel über die dramatischen Ereignisse in Ägypten ein, wo die (Noch-)Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich im Zusammenspiel mit Israel versucht haben, den zuvor von Gamal Abdel Nasser verstaatlichten Suez-Kanal wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen und den ägyptischen Machthaber zu stürzen.

Doch die US-Regierung von Dwight D. Eisenhower übte aus verschiedenen Gründen Druck auf die Briten aus, die militärische Intervention zu stoppen. London fügte sich, weil eine Fortsetzung den wirtschaftlichen Ruin für das Land bedeutet hätte. Die Franzosen waren erzürnt über die britische Entscheidung, das Unternehmen „Musketeer“ vorzeitig abzublasen, fortan begegneten sie London mit verstärktem Misstrauen. Eine Konsequenz war dann, dass Paris Westdeutschland zum wichtigsten Partner in internationalen Angelegenheiten auserkor.

Neben der Revolte gegen die kommunistische Zwangsherrschaft in Mittelosteuropa waren es die Rebellion gegen die koloniale Herrschaft in Afrika, aber auch in Zypern oder in der Karibik sowie der Kampf der Schwarzen um Gleichberechtigung, die dieses Jahr 1956 besonders prägten und denen Simon Hall sein besonders Augenmerk zuwendet. Großbritannien lockerte den Griff seiner Kolonialherrschaft auch in Afrika und entließ die Goldküste, das spätere Ghana, in die Unabhängigkeit. Frankreich begann durch seinen Kolonialkrieg in Algerien regelrecht auszubluten, im Jahr 1956 versank es immer tiefer im dortigen Treibsand des Unabhängigkeitskampfes.

Im Süden der USA wurde das Jahr zu einem Wendepunkt im Kampf um Gleichberechtigung – wenn er auch noch viele weitere Jahre andauerte. Dazwischen widmet sich Hall aber auch den „zornigen jungen Männern“ in den USA und in Westeuropa, die die Rock'n'Roll-Musik zum Vehikel einer kulturellen Generationenrevolte machten.

All dieses vielschichtige, vielfältige und übergreifende Geschehen in der Welt – nur Asien, Lateinamerika und Australien bleiben weitgehend unberücksichtigt – erzählt Hall in einer klaren, verständlichen Sprache. Und das tut er auch noch ausgesprochen spannend – wie Geschichte eben sein kann. ■

Simon Hall

1956

Welt im Aufstand. Aus dem Englischen von Susanne Held. 512 S., geb., € 25,70 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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