Wider die Tyrannei des sanften Geredes

Peter Strassers Plädoyer für einen unachtsamen Umgang mit der „Achtsamkeit“ ist widersprüchlich.

Wir sind siebeneinhalb Milliarden“, schreibt Peter Strasser im Prolog seines Buches über die Achtsamkeit. „Wenn wir nicht lernen, mit unseren Schätzen – unserer Umwelt und unserer eigenen Natur – achtsamer umzugehen, dann ist das Ende absehbar. Achtsamkeit ist ein Lebensprinzip. Aber wie alle Prinzipien wird es verstanden und missverstanden, gebraucht und missbraucht.“

Völlig richtig: Achtsamkeit als offene und genaue Wahrnehmung dessen, was in uns und um uns geschieht, ist aus ethischer Sicht unverzichtbar. „Sehen dessen, was ist“, stellte der renommierte katholische Philosoph Josef Pieper schon vor gut vier Jahrzehnten fest, „soll man ja nicht für eine Kleinigkeit halten; es handelt sich um ein höchst anspruchsvolles Unternehmen.“ Auch in der Psychotherapie hat Achtsamkeit Karriere gemacht: Achtsamkeitstrainings sind zu seriösen Behandlungsmethoden bei Schmerz und Angst, Depression und Zwangsstörungen avanciert. In den vergangenen Jahren ist Achtsamkeit zu einem inflationär verwendeten Modewort degeneriert, mit dem sich etwain den Bereichen Wellness und Ratgeberliteratur gute Geschäfte machen lassen. Der eifernd vorgetragene Imperativ zu ständiger Achtsamkeit setzt Menschen in vielen Fällen psychisch zusätzlich unter Druck.

Wer von Strassers schmalem Band eine wohlabgewogene Anleitung zum ethisch richtigen Umgang mit Achtsamkeit erwartet, wird enttäuscht. Ein allfälliges positives Verständnis von Achtsamkeit erschließt sich aus dem Buch nur auf dem Weg der Verneinung. Strassers Hauptaugenmerk richtet sich darauf, wo und wie Achtsamkeit durch „samtpfotige Achtsamkeitsideologen“, „ausgefuchste Achtsamkeitsgeschäftemacher“ und „esoterisch angehauchte Achtsamkeitstrainer“ ideologisch missbraucht wird. Dabei wird vieles, was Strasser an der Gegenwartskultur stört, mit dem Achtsamkeitsideal kausal in Beziehung gesetzt: überzogene Sensibilitätsansprüche von sich als benachteiligt verstehenden gesellschaftlichen Gruppen (Frauen, Homosexuelle et cetera) und damit natürlich auch die gendergerechte Sprache (das Buch ist Konrad Paul Liessmann gewidmet!), die Chaostheorie, nach der der Flügelschlag eins Schmetterlings hierorts irgendwo anders einen Wirbelsturm auslösen könnte, das ganze „scheinsanfte Gerede“ von den vielen in uns und um uns, denen wir Achtsamkeit schulden würden.

Strasser trägt seine scharfe Kritik an der „Tyrannei der Achtsamkeit“ laut Klappentext in Form „launiger, ironischer und wenig zimperlicher Kommentare zu einer neuen Quasireligion“ vor. Es treten darin unter anderm ein Dr. psych. mult., Gottfried Wilhelm Leibniz auf, außerdem Strassers aus anderen Beiträgen bekannter Vollmops Paul und seine Meerschweinchen Fritzi und Frazi.

Es gibt Textstellen, an denen ich Strasser problemlos verstehe und zustimme, aber die sind eher selten. Im Großen und Ganzen finde ich das Buch höchst irritierend. Nicht selten habe ich mich beim Lesen gefragt: Verstehe ich das richtig? Was will mir der Autor damit sagen? Denkt Strasser wirklich so reaktionär, wie manche Formulierungen nahelegen? An einer Stelle trägt Leibniz seine Interpretation der christlichen Erbsündenlehre vor. Strasser urteilt darüber wie folgt: „Mir war das alles zu hoch, zu weit hergeholt, zu metaphorisch.“ Genauso ging es mir mit Strassers Buch.

Die Irritation wirkt nach. Ich frage mich, ob ich als „Theologiebeamter“ einfach zu wenig philosophisches Wissen habe, um einen so hochgebildeten „Philosophiebeamten“ und dessen diffizile Ironie zu verstehen. Oder hängen meine Probleme mit Strassers Buch damit zusammen, dass ich jahrelang recht und schlecht Zen-Meditation geübt habe, in der Achtsamkeit eine wichtige Rolle spielt? Vielleicht aber hat mich nur gestört, dass ein bissiger Zwergdackel in Strassers Buch den Namen „Kurt“ trägt. Um das alles herauszufinden, müsste ich achtsam in mein Inneres schauen. Das aber würde Strasser nicht wollen. So viel habe ich verstanden. Glaube ich zumindest. ■

Peter Strasser

Achtung Achtsamkeit!

96 S., brosch., € 14,90 (Braumüller Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.