Allahs dunkle Schatten

„Der Geruch des Paradieses“: In Elif Shafaks Roman leidet die Heldin Peri an der Zerrissenheit der Türkei zwischen säkularer Tradition und politisch hochgepeitschter Islamisierung.

Die Zustände in der Türkei werden zusehends unerträglicher. Der Graben zwischen dem Land und Europa erweist sich mittlerweile als unüberbrückbar. Die gerade entstehende islamistische Despotie ist mit den Werten der aufgeklärt-demokratischen Gesellschaft des Westens nicht mehr in Einklang zu bringen.

„Die zivilisierte Welt ist uns voraus, es bleibt uns nichts übrig, als mit ihr gleichzuziehen.“ Diese weise Anweisung ihresStaatsgründers Kemal Atatürk, der erstmals die Gleichheit der Geschlechter in der türkischen Gesellschaft garantiert hat, wollen die eifernden Nationalisten rund um ihren autokratischen Führer, Recep Tayyip Erdoğan, nicht mehr hören. Jetzt heißt es stattdessen: Türkei über alles!

Er habe „die Nase voll von Belehrungen aus Europa“, erklärte der türkische Außenminister, Mevlüt Çavuşoğlu, kürzlich unumwunden vor den Ohren des deutschen Außenministers, Frank-Walter Steinmeier. Und er fügte drohend hinzu: „Natürlich will das Volk die Todesstrafe für die Putschisten. Das fordert das Volk, das fordert auch meine Frau.“ Die Äußerung beschreibt die Falle, in die Frauen unter der patriarchal-islamischen Hegemonie in der heutigen Türkei geraten sind. Eine rückwärtsgewandte Ideologie, die sich religiös verbrämt, kollidiert, was die Rolle der Frau heute betrifft, mit der Vorstellung vom autonomen Individuum, das weiß, wie es entscheidet, und deshalb für seine Handlungen selbst einstehen kann. Stattdessen soll der Wirkungsbereich der Frau wieder vorwiegend auf Küche und Bett verlegt werden – und politisch spricht ihr Mann für sie.

Die Autoren, vor allem aber die Autorinnen leisten gegen diese Unterdrückung Widerstand, indem sie uns genau hinsehen lassen. So gibt uns die 1971 in Straßburg geborene Elif Shafak in ihrem Roman „Der Geruch des Paradieses“ einen bestürzend genauen, weil erfahrungsgestärkten Einblick in die Entwicklung der türkischen Oberschicht.

Dabei gerät der Zwiespalt für die türkischen Frauen angesichts des Wandels von der kemalistischen Vergangenheit bis heute ins Zentrum: Peri, die Hauptgestalt des Romans, erlebt als Mädchen in der eigenen Familie die Zerrissenheit ihres Landes zwischen der säkularen Tradition und einer unter Erdoğan hochgepeitschten Islamisierung. „Wie ein Meteorit war die Religion in das Leben der Familie eingeschlagen und hatte sie in zwei verfeindete Lager gespalten“, heißt es dazu im Roman.

Peri erlebt einen ebenso gütigen wie streng säkularen Vater namens Mensur, der versucht, seiner Tochter ein aufgeklärtes Bewusstsein mit auf den Weg zu geben: „Wenn ich eine Frau wäre, hätte ich eine doppelt kritische Einstellung gegenüber der Religion“, versichert er ihr und hat auf ihre Nachfrage eine überraschende Erklärung bereit: „Weil Gott ein Mann ist. Zumindest haben sie uns das eingeredet, die frommen Leute.“

Diesem religionsskeptischen Vater widerfährt es, dass sich seine Frau, Selma, unter Anweisung eines rigiden Predigers zur strenggläubigen Muslimin wandelt, die sich weigert, Männern die Hand zu geben oder in öffentlichen Verkehrsmitteln auf Stühlen Platz zu nehmen, auf denen zuvor ein Mann gesessen ist. Mit Gleichgesinnten fährt sie an die Strände in der Nähe von Istanbul, um Frauen im Bikini aufzufordern, sich zu verhüllen, da sonst „ihre Seelen unrettbar verloren“ wären.

Diesen Extremen sucht Peri zu entkommen, indem sie ein Studium in Oxford beginnt. Dort nimmt sie an einem Seminar teil, in dem ein in der Kollegenschaft umstrittener Professor Azur eine Handvoll Studierender unterschiedlichster Religionen zum heftigen Glaubensstreit aufzustacheln sucht. Sein Lehrziel ist Aufklärung mittels Konfrontation, und tatsächlich geraten drei Mädchen aus dem Nahen Osten in den Bann des Charismatikers und seines Experiments: Die Iranerin Shirin als weltoffene, modisch wie moralisch vielseitig bewegliche Laizistin, die sich mit der tief religiösen Ägypterin Mona heftige verbale Kämpfe liefert. Und zwischen beiden die Zweiflerin aus der Türkei, über diees heißt: „Wie die eigene Kindheit war der Islam für Peri unglaublich vertraut und persönlich, aber gleichzeitig vage und weit entfernt – ein im Kaffee aufgelöstes Stück Zucker, vorhanden und doch nicht da.“

Ausgerechnet in Oxford, dieser Kapitale viel gefächerter westlicher Bildung, lässt die Autorin drei junge Musliminnen östlicher Herkunft um den rechten Glauben ringen. Dabei geht es weniger um Religion als um die Freiheit der eigenen Lebensführung. Azur, ein Freibeuter und Pirat auf den Meeren des Geisteslebens, leitet mit denkbar unkonventionellen Mitteln Peris spirituelle Befreiung ein.

In Shafaks jüngstem Roman gleitet Peri von Kapitel zu Kapitel aus der Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart und wieder zurück. Nach ihrem abgebrochenen Studium heiratet sie in Istanbul einen – im Roman unscharf bleibenden – Unternehmer aus der Immobilienbranche und wird Mutter. Die Autorin selbst lebt heute mit ihrem Mann und zwei Kindern in London und Istanbul. In Peris Bewusstsein wird auf vielfältige Weise zu klären versucht, wie alles so gekommen ist und wie es heute steht um die Türkei.

Die von der Erzählerin wiedergegebenen Gespräche der betuchten Istanbuler Gesellschaft anlässlich einer Dinnerparty im Frühjahr 2016 lassen tief blicken, wie heftig weite Teile der tonangebenden Schicht dort bereits vom Virus autoritärer Staatshörigkeit infiziert sind. „In der islamischen Welt ist Demokratie völlig überflüssig“, äußert da eine Innenarchitektin, und ihr Verlobter wünscht sich „eine gütige Diktatur“: „Solange der Mann an der Spitze weiß, was er tut, habe ich kein Problem mit Autorität. Wir leben im Jahrhundert des Tigers, ob es uns passt oder nicht. Als Tiger wird man nicht geliebt, das ist klar. Aber gefürchtet, und darum geht es.“ Es entsteht das Psychogramm einer Gesellschaft, die sich nicht nur in der Frage der Religion, sondern auch der Politik als haltlos und tief zerrissen zeigt.

Religion kann Wegweiser sein und Trost, aber auch eine Flut von abgründigem Unverstand auslösen. Der Islam ist nicht nur eine Religion, er ist eine politische Macht. Daher muss mit dem Islam politisch umgegangen werden.

Nach der Lektüre von Elif Shafaks eindringlichem Erzählwerk fühlt man sich vor allem in einer Maßgabe für den Westen bestärkt: Wer den Frauen hierzulande die Freiheit sichern will, muss für das Verbot der Vollverschleierung eintreten. Denn die Freiheit zur eigenen Entscheidung ist eine allzu vage Option für die muslimischen Frauen: Die Unterdrücker im Namen einer missbrauchten Religion werden ihnen nämlich diese Freiheit erfahrungsgemäß nicht zugestehen. ■

Elif Shafak

Der Geruch des Paradieses

Roman. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. 556 S., geb., € 25,70 (Kein & Aber Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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