Obsession, die überwindet

Faszinierend: der Journalist Alan Rusbridger über seine pianistische Leidenschaft.

Was kann es Aufregenderes geben als einen spannenden Beruf? Etwa Journalist bei einem der weltweit gefragten Blätter wie dem britischen „Guardian“. 20 Jahre stand Alan Rusbridger an seiner Spitze. Ein 16-Stundentag war die Regel, begleitet von Reisen, Treffen mit den Einflussreichen und Mächtigen dieser Welt. Mitunter auch, um einen Kollegen aus denKlauen eines Diktators zu befreien. Dazu immer wieder ungewohnte Herausforderungen, auf die man mit Zeitungen in aller Welt, wie der „New York Times“ oder dem „Spiegel“, reagieren möchte. Zeit für anderes bleibt nicht. Oder doch?

Musik begründet Freundschaften, hat die Mutter dem Autor mitgegeben, als sie ihn zum Üben am Klavier anhielt. Alan Rusbridger war sechs, als er in den Kirchenchor eintrat. Mit acht begann er Klavier zu spielen, später Klarinette. Wo immer es ihn hinzog, suchte er nach Laienorchester, in denen er seiner Klarinettenleidenschaft frönen konnte, oder nach Kammermusikpartnern. Musik als Hobby,das war es, was ihn interessierte, weniger das ernsthafte Erarbeiten eines Stücks.

Um vom täglichen Trott auszuspannen, schrieb er Kinderbücher und malte. Die Leidenschaft für Musik aber war stärker. Nach 20 Jahren nahm er wieder Klavierunterricht. Tänze von Schubert, die er bis ins Details mit seinem Lehrer erarbeitete, standen am Anfang. Bei Beethovens Sonate op. 110 war bald Schluss. Zumindest mit dem Schlussteil der Schumann-Fantasie klappte es. Ein Erfolg für den inzwischen 50-Jährigen, für den tägliches Klavierspielen zu einem Teil des Tages geworden war.

Die Chopin-Ballade spielen können

Dann der entscheidende Hinweis eines ehemaligen Theaterkritikers der „Times“ auf einen Kurs für begeisterte Amateure im französischen Lot-Tal. Fünf Jahre lang traf Rusbridger dort eine Woche im Juli auf Gleichgesinnte aus verschiedensten Berufen und in unterschiedlichem Alter – auf einen ehemaligen Börsenmakler, eine Lehrerin, eine Psychotherapeutin, einen Ingenieur, einen Fundraiser, einen Physiologen und Gary, der in seinem Leben schon vieles war. Er sollte am Ende einer solchen Woche Rusbridgers Leben entscheidend verändern, als er zum Abschluss eines der anspruchsvollsten Werke der Klavierliteratur, die erste Chopin-Ballade, spielte. Genau das hatte sich nun auch Rusbridger vorgenommen: Er wollte das Stück innerhalb eines Jahres aufführungsreif erarbeiten.

Bald schienen der „WikiLeaks“-Skandal und der Telefon-Abhörskandal des „News of the World“-Magazins einen Strich durch diese Rechnung zu machen. Rusbridger war von seiner Obsession so besetzt, dass er nicht mehr zurückkonnte. Er benötigte nicht zwölf, sondern 16 Monate, um sich dieses Stück zu erobern. Dazu befragte er auch prominente Pianisten – wie Alfred Brendel, Murray Perahia, Emanuel Ax oder Daniel Barenboim – zu Interpretations- und technischen Fragen. Am Ende hatte er es – zuweilen begleitet von Nervosität und Selbstzweifel – geschafft, nicht nur Chopins erste Ballade konzertreif zu spielen, sondern zu zeigen, dass einen nichts aufhalten soll, seiner Leidenschaft zu frönen. Weder ein fordernder Beruf noch das Alter. Man muss sich nur Zeit nehmen.

Ein brillant geschriebenes, inspirierendes Buch; zugleich eine Einladung, auch selbst einmal auf Rusbridgers Spuren zu wandeln. Freilich hätte einem kundigen Lektor auffallen können, dass Schubert weder Klavierquartette noch „Kinderszenen“ komponiert hat. ■

Alan Rusbridger

Play it again

Ein Jahr zwischen Noten und Nachrichten. 480 S., geb., € 25,70 (Secession Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2016)

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