London swingt wieder

„Swing Time“: Zadie Smiths fünfter Roman ist ein Buch über vieles: Erwachsenwerden, Rassismus und Sexismus, die Geschichte der Sklaverei, Entwicklungshilfe, ökonomische Ungleichheit, Tanz und Musik. Eine Roman in Revuenummern.

Als Zadie Smiths erster Roman, „White Teeth“, erschien, war sie 25 Jahre alt und wurde damit zum Shootingstar. Ihr mittlerweile fünfter Roman, „Swing Time“, erscheint nun auf Deutsch, mit demselben Titel und sogar demselben Cover wie im Original. Es ist die Geschichte einer Mädchenfreundschaft, die von einer namenlosen Ich-Erzählerin referiert wird. Im Prolog kehrt sie aus einem Grund, den wir erst am Ende erfahren, gedemütigt nach London zurück. Hier, im weniger privilegierten Nordwesten der Stadt, wo Sozialbauten und Arbeitslosigkeit kaum Zukunftsperspektivenaufkommen lassen, ist sie – wie die Autorin –geboren. Ebenfalls wie diese hat sie eine Mutter jamaikanischer Herkunft und einen weißen Vater, was sie mit ihrer Freundin Tracey verbindet, die eine weiße Mutter und einen Vater karibischer Herkunft hat. Die Mädchen, die „beide den identischen Braunton“ haben, lernen einander im Ballettunterricht kennen, und auch die Liebe zum Tanz und zu alten Filmmusicals (wie „Swing Time“ mit Fred Astaire und Ginger Rogers) teilen sie miteinander.

Die Klassenunterschiede zwischen beiden sind subtil: Nicht nur, dass die Ich-Erzählerin in einem etwas besseren Wohnblock lebt, ist ihre politisch interessierte Mutter auch dabei, einen Studienabschluss zu erwerben, während ihr Vater die Kinderbetreuung übernimmt. Traceys schrille, ungehobelte Mutter dagegen entspricht eher dem „White Trash“-Klischee, und ihr Vater sitzt im Gefängnis – Tracey behauptet, er sei Background-Tänzer bei Michael Jackson unddeshalb so lange weg.

Am Ende der Schulzeit sieht es dennoch so aus, als ob die begabte Tracey durchaus gute Karten hätte. Sie studiert an einer Tanzakademie, um Musicalstar zu werden, während die Ich-Erzählerin die Möglichkeit, an eine Top-Uni zu gehen, ausschlägt, um Medienwissenschaften an einer zweitklassigen zu studieren. Die Wege der beiden trennen sich nun für lange Zeit. Die Ich-Erzählerin hat eine glücklose Beziehung mit einem Studienkollegen, der sich als eine Art afrikanischer Gott inszeniert (tatsächlich aber eine weiße Mutter hat), bekommt nach dem Abschluss einen Job bei einem Musikvideosender und wird schließlich vom weißen Pop-Superstar Aimee als persönliche Assistentin eingestellt. Aimee hat eine unübersehbare Ähnlichkeit mit Madonna und ist von einer Entourage ohne eigenes Privatleben umgeben, die nun für die Erzählerin zu einerArt Ersatzfamilie wird. Die berühmte Sängerin will Gutes tun und in einem Dorf in Gambia eine Mädchenschule errichten.

Natürlich taucht sie dort nur zu ausgewählten Publicity-Terminen auf und lässt die eigentliche Arbeit andere machen. Die Schilderung dieser zwischen naiv-bevormundender Nettheit (Erfolg, meint sie, sei nicht so sehr eine Frage äußerer Voraussetzungen als vielmehr der Persönlichkeit) und gnadenlosem Narzissmus schwankenden Celebrity-Persönlichkeit gehört zum Amüsantesten des Buches. So verwendet sie in Afrika gelernte Tanzschritte auf der Bühne, weil kulturelle Appropriation (ein Begriff, der in der Übersetzung zu „Aneignung“ verblasst ist) für sie kein Thema ist, nein, die Kunst sei international, und jeder könne alles verwenden, meint sie. Doch es kommt noch schlimmer: Sie holt sich aus Afrika einen attraktiven schwarzen Liebhaber und sogar ein hübsches Baby, das sie mithilfe einer entsprechenden Remuneration an Eltern und Behörden adoptiert. Die Ich-Erzählerin wiederum findet in Gambia eine neue faszinierende Freundin, die quirlige, lebenslustige Lehrerin Hawa, die schließlich den Hijab anlegt, um einen muslimischen Wanderprediger zu heiraten.

„Swing Time“ ist ein Buch über vieles: Coming of Age, Rassismus und Sexismus, die Geschichte der Sklaverei, Entwicklungshilfe, ökonomische Ungleichheit, Tanz und Musik – man könnte fast übersehen, dass auch sexueller Missbrauch ein Thema ist. Denn der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Kindheitsfreundinnen ist weder Talent noch Persönlichkeit, sondern die Tatsache, dass Tracey von ihrem Vater missbraucht wurde und die Ich-Erzählerin zu dem ihren ein liebevolles Verhältnis hat. Schon in der Schulzeit ist Tracey durch Drogenkonsum, Diebstahl und Promiskuität aufgefallen; als wir ihr später begegnen, hat sie eine kleine Rolle in der Chorusline eines Musicals und zwei Kinder, am Ende ist ein drittes da und sie zu einer pummeligen Stalkerin geworden, die die krebskranke Mutter der Ich-Erzählerin, die mittlerweile Lokalpolitikerin ist, mit hasserfüllten E-Mailsheimsucht.

Vieles wird in spannenden Vignetten angerissen – wenn das afrikanische Dorf, das vom reichen Popstar gesponsert wird, keine staatliche Unterstützung mehr bekommt; wenn man auf dem Schulgelände eine Klinik für Geschlechtskrankheiten errichten will, um missbrauchte Mädchen zu behandeln, aber beschließt, „im Gespräch mit den Müttern die Betonung auf Menstruation zu legen“; oder wenn in einem alten Musical eine „tragische Mulattin“, die als Weiße „durchgeht“, mit ihrem weißen Mann gegen das Mischehenverbot verstößt – „und selbst diese Rollen bekam man dann nicht, irgendwer vergab sie immer an die Weißen, denn selbst eine tragische Mulattin war dochnicht ganz geeignet, die tragische Mulattin zu spielen“.

Um wirklich in die Tiefe zu gehen, ist in diesem von Revuenummer zu Revuenummer jagenden Roman keine Zeit, aber das muss auch nicht sein, der Tanz ist hervorragend, und man unterhält sich gut. Die Ich-Erzählerin ist eigentlich auktorial, bezeichnet sich selbst als „Schatten“ und wirkt auch so – das Spannende sind die anderen Frauenfiguren, denen sie begegnet, angefangen bei ihrer skurril-politischen Mutter, die einenGemeinschaftsgarten anlegen will und dabeinur ein gewaltiges Schlammloch kreiert.

Für die Übersetzung wirft das Buch einige Probleme auf, insofern als die Autorin – wie in der anglosächsischen Literatur häufig der Fall – gesprochene Sprache gezielt einsetzt. Herkunft, Klasse und Persönlichkeit werden durch eine Vielfalt sprachlicher Register ausgedrückt, sowohl in der direkten Rede als auch in der Hervorhebung spezieller Ausdrücke in Anführungszeichen. Obwohl man in der Übersetzungswissenschaft schon lange zu dem Schluss gekommen ist, dass es ratsamer ist, in solchen Fällen eine neutrale Umgangssprache zu verwenden, greift die Übersetzerin zu Varianten des Bundesdeutschen. „Trantüten“ stehen herum, Dinge werden „gemopst“, Cashews„gepellt“, man fährt auf „Butterfahrt“ (!), bezahlt in „Öcken“ und betrachtet die Dinge „im Nachklapp“. Was aber für einen Sinn soll es haben, wenn jemand in Nordlondon, New York oder gar Gambia spricht, als käme er aus Köln, Berlin oder Wolfenbüttel? Wer kann, sollte das Buch daher lieber im Original lesen. ■

Zadie Smith

Swing Time

Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. 640 S., geb., € 24,70 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2017)

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