Kreuz und quer an der Mur

„Mein Graz“: Karl Wimmlers scharfer Blick auf Lokal- und Weltgeschichte.

Der anspruchsvolle und doch bescheiden klingende Titel erinnert an eines der schönsten – und am wenigsten bekannten – Bücher des Schriftstellers Wolfgang Hermann. Es heißt „Mein Dornbirn“, nach der Stadt, in der Hermann seine Jugend verbracht hat, und ist im Miteinander von Erkundung und Empfindung, Erzählung und Appell kaum einer Gattung zuzuordnen. Auch Karl Wimmlers Textcollage über „Mein Graz“ sprengt alle Genres. Ihm könnte der gleiche Befund zugrunde liegen, zu dem Hermann in Erinnerung an seine in Dornbirn verbrachten Jahre gekommen war: „Verlust des Zusammenhalts, Gesichtslosigkeit, Orientierungslosigkeit.“ Mehr Ähnlichkeiten gibt es nicht – zu unterschiedlich sind die beiden in der Wahl ihrer literarischen Mittel, in ihrem Temperament, ihren politischen Auffassungen. Zu verschieden sind auch die Ortschaften, denen ihre Zuwendung gilt, ist das Lebensgefühl derer, die sie bevölkern.

Schwer zu sagen, was an Wimmlers Werk mehr zu bewundern ist: Idee oder Umsetzung. Was Erstere betrifft, möchte man fast neidisch werden, beim zweiten kommt man aus dem Staunen nicht heraus. „Dieses Buch“, heißt es in der knappen Vorbemerkung, „enthält keine neue Version der Geschichte von Graz der letzten hundert Jahre, sondern lauter Bruchstücke. Diese sind Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, dem Internet entnommen oder wurden von jemandem notiert. Diesen Zitaten oder Textteilen folgen Erklärungen, Kommentare, Ergänzungen, Geschichten. Die Chronologie kann täuschen. Kreuz und quer Lesen geht auch.“

„Mein Graz“ verführt, mit Einträgen zu den Jahren 1913 bis 2017, tatsächlich zur selektiven Lektüre, nur wird man, um nur ja nichts zu übersehen, beim zweiten Mal Lesen doch von vorn beginnen und nicht aufhören können, bis man das turbulente Ende mit dem Stichwort Chaos erreicht hat. Wimmler beleuchtet jedes Ereignis aus einer unvermuteten Perspektive, gleichsam von schräg unten, und zeigt dabei, wie viel Mut, Hingabe, aber auch Niedertracht es birgt.

Vermächtnis zu Lebzeiten

Entgegen seiner Ansicht bilden die 104 Kapitel ein geschlossenes Werk, das mir wie ein Vermächtnis zu Lebzeiten erscheint, gerade weil dem Autor an sich selbst wenig liegt. Er lenkt den Blick auf Menschen, die ihm in Haltung und Engagement nahestehen, auch wenn er viele von ihnen – die Fischer-Brüder Ernst, Walter und Otto oder Willy Scholz, Ida Maly, Richard Zach – nie kennengelernt hat. Aber da sind auch Zeitgenossen wie der Jazzmusiker Berndt Luef, die Politikerin Elke Kahr, der Historiker Heimo Halbrainer, dazu Flüchtlinge, Gastarbeiterinnen, Schwerstbehinderte, denen er Name, Würde und Ansehen verleiht.

Am meisten beeindruckt der scharfe Verstand, mit dem Wimmler die Herrschaftsstrukturen in Politik, Wirtschaft und Kultur durchleuchtet, scheinbar Unzusammengehöriges verbindet und die Gegenwärtigkeit von Geschichte aufzeigt, unaufgeregt und mit atemberaubenden Volten. Einer der von ihm Aufgerufenen ist der Architekturhistoriker Friedrich Achleitner: „Über Graz könnte man Bücher schreiben, man würde sie aber in Graz nicht lesen, und wenn, würde man es nicht eingestehen.“ Achleitners Warnung kann man in diesem Fall getrost in den Wind schlagen. Karl Wimmler legt nämlich nicht nur eine Lokal-, sondern sogar ein Stück Weltgeschichte vor, das auch Nicht-Grazer fesseln wird. ■

Karl Wimmler

Mein Graz

Ein Jahrhundert in Bruchstücken. 256 S., brosch., € 22 (Clio Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2017)

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