Nicht gesehen werden wollen

„Wir Strebermigranten“: Emilia Smechowskis Bericht vom Preis der Überanpassung ihrer Familie.

Es gleicht einer Amputation. Von heute auf morgen darf die kleine Emilka kein Wort Polnisch mehr sprechen. Zumindest dann nicht, wenn die Familie in ihrer neuen Heimat in Berlin unterwegs ist. „Psst“, zischt die Mutter, wenn der quirligen Tochter die falsche Sprache aus dem Mund sprudelt. Denn sie wollen hier nicht auffallen. Nur nicht auffallen, keine Fehler machen, sich der Umgebung anpassen – diese Grundsätze bestimmen die folgenden Jahre der 1988 aus Polen geflüchteten Familie Smechowski. Schließlich haben sie der besseren Zukunft wegen ihre Heimat verlassen, und von nun an gibt es für sie nur einen Weg: den nach oben.

Emilkas Eltern, beide Ärzte, gehen mit Ehrgeiz an ihre neue Existenz heran, lernen innerhalb kürzester Zeit Deutsch und können schon bald ihre Approbation beantragen. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet, fürs Grübeln oder Nostalgie haben sie keine Zeit. Die Fröhlichkeit der Familie, immerhin bedeutet ihr Name übersetzt Lachen, weicht dem Ernst. Gelassenheit macht der Angst Platz, der Angst, ja nichts falsch zu machen.

Die Smechowskis haben ein spezielles „Ticket“: Als Nachkommen derer, die einst die Deutsche Volksliste unterschrieben, bekommen sie den Aussiedlerstatus. Und wie viele andere polnische Familien schämen sie sich, weil das bedeutet, einen Angehörigen zu haben, der in der Wehrmacht gedient hat. Auch Emilkas Urgroßvater ist einer von ihnen, was bis heute in der Familie tabu ist. „Scham“, sagt die Autorin, trieb die Polen dazu, sich als solche nicht erkennbar zu geben: „Sie wurden nicht gesehen, weil sie nicht gesehen werden wollten.“

Ein Jahr später bekommen die Smechowskis die deutsche Staatsbürgerschaft, aus Emilka wird Emilia, der Geburtsort ändert sich von Wejherowo in Neustadt in Westpreußen. Damit ist die Abnabelung vollzogen. Für Emilia wird die Messlatte hoch gelegt: Es werden nur Bestnoten verlangt, und am liebsten soll sie noch deutscher als die Deutschen werden. Erst in der Pubertät rebelliert sie gegen die Überanpassung der Eltern. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, hätten sie weniger schroff auf den Wunsch der Teenagerin reagiert, Sängerin werden zu wollen. Und so wird Emilias Ausbruch von zu Hause zu einer Absage an die Art, wie die Familie in Deutschland lebt.

Mit der Zerrissenheit zwischen der neuen Identität, der man doch nie ganz zugehört, und der alten, die einem immer fremder wird, haben alle Migranten rund um den Globus zu kämpfen. Manche trauern nostalgisch ihrer alten Heimat nach oder dem, was sie idealisiert dafür halten. Andere schämen sich dafür, sich an die neue Welt so gut angepasst zu haben. Eine Studie fand heraus, dass Zuwanderer dann am glücklichsten sind, wenn sie sich sowohl mit ihrem Herkunftsland als auch mit ihrer neuen Heimat verbunden fühlen. Der radikale Bruch mit der Herkunft macht unglücklich.

Emilia beginnt erst einmal, sich zu deassilimieren, beantragt die polnische Staatsbürgerschaft, lernt die Sprache neu und bedient sich ihrer beiden Identitäten wie einer Tarnkappe, die sie „runter- und wieder hochzieht, je nachdem, wie es besser passte“. Als sie selbst Mutter einer Tochter ist, sagt sie, ich bin Polin, und es klingt wie eine Befreiung. Aber war ihre Rebellion wirklich vor allem eine Befreiung vom deutschen Anpassungszwang, wie die Autorin andeutet? Wer je in Berlin Kreuzberg gelebt hat, wird einen solchen Zwang dort eher selten finden.

Oder hat sie sich doch mehr an die Perfektionsmaßstäbe ihrer Eltern angepasst, als ihr lieb ist? „Leistungsträgerin“ wie diese wollte sie nie sein, aber eine erfolgreiche Journalistin ist sie doch geworden. Dabei hat ihr das Wiederanknüpfen an ihre Herkunft geholfen. Emilia Smechowskis Geschichte einer Abnabelung ist eine beherzigenswerte Warnung vor falschen Kompromissen. ■

Emilia Smechowski

Wir Strebermigranten

224 S., geb., € 22,70 (Hanser Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2017)

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