Die Leere des Genusses

„Die Nurweltlichen sind die eigentlich Weltlosen.“ Peter Strasser gerät das Nachdenken über „Die einfachen Dinge des Lebens“ zur literarischen Erzählung, zum inneren Dialog widerstreitender Lebensprinzipien.

Peter Strasser ist ein religiöser Mensch. Weil er nach dem Ganzen fragt. Nach dem Sinn des Lebens. Eine solche Frage lebt von der Idee, dass es irgendwo einen Punkt geben könnte, von dem aus sie beantwortbar wäre. Es ist die Idee des Jüngsten Gerichts. Wir kennen die zahlreichen mittelalterlichen Darstellungen der im Gänsemarsch und mit bangen Gesichtern zum Erzengel Michael vorrückenden Menschen. Und dann wird nicht „Glaubst du an Gott, und widersagst du dem Teufel?“ gefragt, weil es nicht mehr um irgendwelche aufzusagenden Bekenntnisse geht, stattdessen wird das ganze Leben auf die Waagschale gelegt. Und weil, wie auf Altarbildern und Tympanons dargestellt, dieses Gericht im Zeichen des gezückten Schwertes und unter dem wachsamen Auge Gottes stattfindet, darf man getrost davon ausgehen, dass es sich dann ausgeschwindelt hat. Das Leben als Ganzes wird in gläserner Durchsichtigkeit vor uns stehen. Der religiöse Mensch weiß, dass es zu dieser letzten Klärung kommen wird, und er wird danach trachten, sich in liturgischen Ritualen der Gegenwart Gottes zu versichern und das Leben in seinen Dienst zu stellen.


Doch Peter Strasser ist kein Theologe, er ist ein Philosoph. Das macht die Sache komplizierter. Als Philosoph kann man nämlich nicht auf des Erzengels unbestechliches Schwert vertrauen, man muss die Stelle des Erzengels selbst einnehmen. Da der Philosoph im Prinzip aber auch nicht gescheiter ist als der Theologe, muss er Fragen stellen, von denen er weiß, dass er sie nicht wird beantworten können. Diejenigen, denen es nicht mehr gelingt, sich der Gegenwart Gottes zu versichern, die aber dennoch das Gefühl nicht loswerden, das Ganze müsse mehr sein als ein „undurchschaubares Zusammenspiel an sich bedeutungsloser Elemente“, nennt Strasser, mit Worten Adolf Holls, die „liturgisch Enttäuschten“. Sie können nicht mehr angeben, auf welche Weise wir uns der Schöpfung und unseres Platzes darin vergewissern könnten, aber sie sperren sich mit Händen und Füßen dagegen, die Welt als einen „Faktentrümmerhaufen“ zu sehen, der nur durch „Gewohnheiten und Redensarten“ zusammengehalten wird.


Es mag dies grosso modo der Zustand der europäischen Kultur sein. Ihr sind die religiösen Antworten abhandengekommen, ohne die Sehnsucht nach der „metaphysischen Heimat“ (Nietzsche) losgeworden zu sein. Damit scheint das Unglück geradezu vorprogrammiert. Das Aufklärungsdenken wird zum triumphalen Auszug aus der Verheißungsgemeinde des neuen Paradieses in die selbstverschuldete Trostlosigkeit.


Was tun? Eine Möglichkeit wäre, sich den Genüssen des Lebens hinzugeben. Wer freilich meint, so sein Glück zu finden, wird von Peter Strasser, mit einem Selbstzitat aus seinem „Journal der letzten Dinge“, eines Besseren belehrt: „Der Genussmensch, den die moderne Welt als Ewigkeitsgestalt – als das ihr zugänglich Göttliche – aufrichtet, ist ein Gehetzter, dessen Umtriebigkeit, je länger sie dauert, umso hoffnungsloser, auch wahnsinniger, anmutet. Von überall drängt schließlich die Leere an. Sie ist bereits jedem Genussakt als Drohung, als düstere Gewissheit beigemischt.“ Dass der „Genussfundamentalismus“ den Menschen kein dauerhaftes Lebensglück bringt, sondern sie in Wahrheit von „der Quelle des Lebens“ abschneidet, davon ist Strasser überzeugt. Was bleibt für den liturgisch Enttäuschten dann noch übrig?
Das Buch versucht sorgsam auszuloten, ob ein sinnvoller Lebensvollzug nicht darin liegen könnte, sich den einfachen Dingen zuzuwenden, eine Art Liturgie des Alltags zu pflegen, sich gleichsam in einem zeitgenössischen ora et labora einzurichten. Außerdem weiß der Autor natürlich, „dass sich die Rede davon, dass es im Leben auf die einfachen Dinge ankomme, dem Nachwirken einer religiösen Auffassung des menschlichen Daseins verdankt, einer Quasiklösterlichkeit außerhalb der Klostermauern“.


Die Religion wird er nicht los. Peter Strasser lässt sich, nach seiner apodiktischen Verurteilung des konsumistischen Hedonismus und der Viagra verbrauchenden älteren Herren, auf keine Debatte darüber ein, inwieweit nicht in der epikureischen Tradition die Idee für eine diesseitige Hinwendung zu den einfachen Dingen des Lebens liegen könnte, die sich keineswegs in flatterhafter Genusssucht verliert. „Die Nurweltlichen“, sagt er, „sind die eigentlich Weltlosen. Sie kriechen von Faktum zu Faktum.“


Peter Strassers Überlegungen führen uns die Sinnfrage in historischen Pirouetten und zeitgenössischen Salti vor, ohne dass der Autor sich erdreistet, sie für uns zu beantworten. Stattdessen spielt er zum Beispiel einen auf der Badewanne hockenden alten Mann, einen ergrauten Steppenwolf, der sich allerdings nicht, wie bei Hermann Hesse, fragt, ob es nicht das Beste wäre, dem Beispiel Adalbert Stifters zu folgen und beim Rasieren zu verunglücken, sondern der sich einfach ein wenig ausrastet, bevor er mit der Morgentoilette fortfährt.


Peter Strasser gerät das Nachdenken über den Sinn des Lebens allmählich zu einer literarischen Erzählung, die von einem Menschen mit zwei Seelen handelt, die in einem permanenten Streit miteinander liegen. Die eine ist religiös und will das Leben als Mitvollzug der Schöpfung verstehen, die andere ist skeptisch, denn sie hat sich – von Friedrich Nietzsche bis Quentin Tarantino – durch die Kulturgeschichte der abtretenden Gewissheiten geackert und hat allen Grund zu befürchten, dass das „Grundproblem der Weisheit“ darin bestehen könnte, „dass sich der Sinn des Lebens nicht ausdrücken lässt“. Der Erzähler solch widerstreitender Gedanken erlebt zudem das Altern als einen „Prozess der Ernüchterung, ja, des zunehmenden Trostloswerdens“, in dessen Verlauf „der Glaube daran, dass das Leben einen Sinn hat, immer schwerer aufrechtzuerhalten“ ist. Doch die Sehnsucht nach der metaphysischen Heimat lässt sich nicht einfach abschaffen. Sie ist da, oder sie ist nicht da.


Und so wird der philosophische Essay zu einem literarischen Schauplatz, an dem, umrahmt von Traktaten zu Büchern und Filmen, kurzen Erzählungen und persönlichen Erinnerungen, vor allem ein innerer Dialog widerstreitender Lebensprinzipien inszeniert wird. Während man diesen literarisch-essayistischen Streifzügen folgt, wird man allmählich inne, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens unter der Hand dem Leser zugeschoben wird. Es ist die Strategie dieses Buches, dass der philosophische Erzähler immer kleiner wird und sich am Ende aus den Seiten gleichsam davonstiehlt.


Dieser raffinierten Erzählweise bin ich gerne gefolgt, wenngleich ich den Gedanken an das Schwert des Erzengels Michael nicht loswurde, das uns mahnt, das ganze Leben in die Waagschale zu werfen. Was ist denn so schlimm daran, wenn einer auf die Suche nach dem Sinn des Lebens verzichtet und sich darauf beschränkt zu klären, ob in den von ihm überschaubaren Lebenszusammenhängen diese Entscheidung oder jene Handlung sinnvoller als eine andere ist? Mag sein, dass er am Ende immer noch nicht weiß, wozu das Ganze gut gewesen sein soll, aber es mag auch sein, dass er, falls es ihm gegönnt ist zurückzublicken, mit dem, was sich nun aufzulösen beginnt, „einfach“ zufrieden ist. Eine solche Bescheidung kann man sich freilich nicht aussuchen. Auch das gehört zu den einfachen Dingen des Lebens. ■

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