Mehr Moral?

Wir sollten in Zeiten des mora-lischen Indifferentismus zu einer „Moralischen Klarheit“ zurück-finden, meint Susan Neiman. Sie verwechselt dabei aber das Zeigen moralischen Stumpfsinns mit dem Stumpfsinn selbst. Moralinsauer, amerikanisch.

Zickenkrieg auf höchstem Niveau? Einem Bericht der „Welt“ vom 11.Juni 2009 konnte man entnehmen, dass sich Susan Neimans Buch „Das Böse denken“ aus dem Jahre 2004 im Suhrkamp Verlag höchst erfolgreich platziert hatte. Damit nicht genug. Susan Neiman, amerikanische Philosophin des Jahrgangs 1955, nunmehr Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, landete 2008 einen weiteren philosophischen Volltreffer: „Ethische Klarheit – Leitfaden für erwachsene Idealisten“. Begeisterte Rezensionen allenthalben, das Werk wird von der „New York Times“ zum „Buch des Jahres“ gewählt.

Und wie reagiert die Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkéwicz? Sie zeigt der Philosophin die kalte Schulter, und zwar mit dem Argument, das Buch sei zu „amerikanisch“. Das lässt Frau Neiman nicht auf sich sitzen. Sie spricht von einer „überraschend bornierten“ Ansicht: „Aber Frau Berkéwicz liest eben kein Englisch.“ Was mich betrifft, so bin ich geneigt, Berkéwicz zuzustimmen.

Warum? Neimans Reibebaum sind die US-Konservativen. Diese werfen ihren Gegnern vor, es an „moral clarity“ fehlen zu lassen. Denn all die politisch Liberalen, Linken und Postmodernen – haben sie nicht längst die traditionellen Werte abgetan, das Bekenntnis zu Familie, Vaterland und Religion verraten? Haben sie nicht die klare Trennung von Gut und Böse beseitigt? Neiman möchte den Vorwurf für ihre eigene Sache konstruktiv wenden. Sie, die sich seinerzeit gegen den Vietnam-Krieg und jüngst für Obama engagiert hat, ist eine typische Linksliberale.

Deshalb hat es Gewicht, wenn gerade sie dafür plädiert, das ethische Vokabular nicht den Republikanern zu überlassen, die damit den Kriegseifer der Vereinigten Staaten und andere Schandtaten der US-Mächtigen legitimieren. Nein, sagt Neiman, wir, die einigermaßen Guten, sollten nicht so tun, als ob uns das Gute, Wahre und Schöne nichts mehr anginge. Wir dürfen nicht einer dekonstruktiven Aufklärung das Wort reden, die uns unserer Humanität beraubt.

Wir sollten vielmehr, unter dem Aspekt eines aufgeklärten Denkens, das sich gegen Mythen und Ideologien aller Art wendet, erneut zu einer „moralischen Klarheit“ zurückfinden. Was ist damit gemeint? Simon Blackburn hat es in der „New York Times“ vom 27.Juli 2008 treffend ausgedrückt: „Es geht nicht um die Fähigkeit, konkrete Antworten auf die praktischen Schwierigkeiten des Lebens zu geben. Eher handelt es sich darum, das Leben unter dem Vorzeichen einer Reihe von Tugenden zu sehen und zu beurteilen. Dazu gehören die Wertschätzung des Glücks, die Respektierung der Vernunft, die Ehrfurcht vor all dem, was Würde besitzt, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“

Was soll man dazu sagen? Erstens, Frau Neimans Position ist – das sei ihr unumwunden zugestanden – sympathisch. Aber zweitens, sie tut ein wenig so, als ob sie das Rad erfunden hätte, obwohl sich in der Philosophie die Ethik schon vor Langem zur Hauptdisziplin des akademischen Faches entwickelt hat. Wie wäre das möglich, wenn es uns an „Klarheit“ darüber fehlte, wie wichtig die Moral für unser aller Leben ist? Und drittens, statt uns tatsächlich durch neue Einsichten weiterzubringen, werden wir mit Plattheiten traktiert. Hier eine Blütenlese: „Es kommt nicht darauf an, gleich das große Ganze zu begreifen, sondern nur das, auf das es jedoch ankommt.“ „Was immer man, um Klarheit zu erlangen, sonst noch braucht, zuallererst sind offene Augen vonnöten.“ „Woran man sich hält, ist eine Frage der Entscheidung, aber die Entscheidung muss nicht beliebig sein.“ „Wo Glückseligkeit und Tugend aus den Fugen geraten ist (!), müssen sie wieder instand gesetzt werden – nicht durch Schönfärberei, sondern durch praktisches Engagement.“ „Ehrfurcht wird uns erst dann nicht mehr verlegen machen, wenn Hoffnung uns nicht mehr verlegen macht.“

Um mit Frau Berkéwicz zu sprechen: Das alles ist mir, dem Amerika-Fan, zu amerikanisch. Vor dem Hintergrund der großen europäischen Denktradition, die Neiman kennt und zu Wort kommen lässt, windet man sich innerlich, wenn man lesen muss, zu welch predigerhaft-verblasenen Schlussfolgerungen die Autorin um der „moralischen Klarheit“ willen gelangt. Außerdem ist man als Österreicher – einerseits durch den Nationalsozialismus belehrt, andererseits mit der sprachkritischen Tradition verbunden – dem Pathos der großen Worte instinktiv abgeneigt. Aber: Auch wenn man etwa vom „Heldentum“ als Tugend ein für alle Mal genug hat, braucht man deswegen nicht blind zu sein dafür, dass es Menschen gibt, die anständig sind und mutig für ihre Sache eintreten – eben Alltagshelden, wie sie in Neimans Heldenkapitel (eines der besten des Buches) geschildert werden.

An einer Stelle fragt Neiman den Leser rhetorisch: „Was ist Ihr Sinnbild des Nihilismus?“ Und sie gibt zur Antwort: „Die Comicserie Beavis and Butt-Head.“ Um diese Kultserie aus den 1990er-Jahren angemessen zu würdigen, musste man die beiden vor sich hin lallenden Heavy-Metal-Idioten, deren Dialoge tiefster Trash waren, zugleich als Radikalkarikaturen einer zeittypisch pubertierenden Haltung entschlüsseln. Indem man sich jedoch, angesichts der herrschenden Dummheit und Brutalität, spielerisch mit ihr identifizierte, konnte man bereits auf Distanz gehen – vergnügt und in gewissem Sinne „gereinigt“.

Neiman hingegen scheint moralinsauer zu übersehen, dass in einer verlogen moralisierenden Welt der ästhetisch zugespitzte Amoralismus bisweilen moralisch größere Sensibilität verrät als das sogenannte Qualitätsfernsehen. Politisch korrekt verwechselt die Moralphilosophin das Zeigen des moralischen Stumpfsinns mit dem Stumpfsinn selbst: mit unserer angeblichen Unfähigkeit zur Liebe, zur Ehrfurcht, zur Hoffnung. Sorry, aber das ist, auf gut Amerikanisch, „bullshit“. Man kann die durchgeknallten „Helden“ von South Park mögen, ohne deswegen unfähig zu sein, die eigene Familie zu lieben oder beim Anblick der blühenden Orchideen vor dem Wohnzimmerfenster Ehrfurcht zu empfinden.

Susan Neiman meint es gut. Doch bei der Lektüre dachte ich: Es geht nicht an, dass der Wille einfach fürs Werk steht. Philosophiehistorische Berge kreißen, um ein Ethikmäuslein für „erwachsene Idealisten“ zu gebären, die ihrerseits popelige Medienkritik betreiben. Nein danke, das kenne ich noch aus der Spießergeneration der Sechzigerjahre, die mich mit ihrem scheinheiligen Getue – huch, die Beatles, Oswald Kolle & „Bravo“! – erst recht gegen die Moral aufbrachte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2010)

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