Kreisky, Hainburg, Waldheim

Es wäre ungenau, wollte man sagen, dass Reinhard Wegerth die Dinge zum Sprechen bringt. Es sind auch Räume, Gefühle, Begriffe, die reden, um eine Zeitspanne zu vergegenwärtigen, die der Lebenszeit des Autors entspricht. „Damals und dort“ – ein etwas anderes Zeitdokument.

Lebt man schon allzu lang in einem fremden Land, so freut man sich, heißt es, wenn man einen Landsmann trifft. Ich weiß das nicht aus Erfahrung, dazu habe ich noch nicht lang genug in einem fremden Land
gelebt. Vielleicht, ja wahrscheinlich, freut man sich auch dann nicht über jeden. Doch dass man sich über einen freut, der dieselben oder wenigstens ähnliche Ecken und Winkel kennt, wie jene, an die man sich mit überraschend spürbarem Heimweh erinnert, das kann ich mir gut vorstellen.

Anscheinend kann es einem auch so gehen, wenn man schon allzu lang in einer fremden Zeit lebt. Mir geht es jedenfalls mit diesem Buch so. Es ist mir aus sentimentalen Gründen sympathisch. Aber das sind gewiss nicht die schlechtesten Gründe.

Wie dieses Buch charakterisieren? Einen seiner Ansätze könnte man verspielt autobiografisch nennen. Der Autor (Reinhard Wegerth) schreibt recht ungeniert über den als solchen bezeichneten Autor (also auch Reinhard Wegerth). Doch legt er die Beobachtung dieses Typs in Miniaturen, die über einen Zeitraum von 30 Jahren verteilt sind, seiner Umwelt in den Mund. Manchmal, aber relativ selten, der menschlichen, häufiger – und das ist die charmante Chuzpe dieser meist kurzen, im Schnitt zwei, drei Seiten umfassenden Texte – der dinglichen Umwelt, also den Objekten, aus deren Perspektive er das Subjekt (also das eigene Ich in diversen Entwicklungsstadien) observiert.

Es wäre ungenau zu sagen, dass Wegerth die Dinge zum Sprechen oder zur Sprache bringt. Es sind nicht nur Dinge, es sind auch Räume, Gefühle, Begriffe. Nicht immer leicht fassbar, wie etwa die Miete, die für ein Zimmer im Studentenwohnheim bezahlt werden muss, oder ein Zweizeiler, der bei einer Demonstration gegen Richard Nixon skandiert wird. Oder die Muttersprache, die man auf einem Formular ankreuzt, auch wenn man sie gar nicht selbst spricht.

Das klingt experimenteller, als es ist – um ernsthaft experimentell zu sein, ist dieses Buch zu selbstironisch. Ironisch im Hin- und Rückblick auf den Autor und ironisch in Bezug auf sich selbst, das Buch. Dazu ist es vielleicht auch zu naiv, doch seine Naivität hat (oder ist) Methode. Am ehesten erinnert die Methode, die hier angewandt wird, an eine, die in manchen Kinderbüchern praktiziert wird.

Da wird fast alles zur Sprache gebracht und spricht. Oder nein: Der Dornbusch, mit dessen verweigertem Monolog alles anhebt, schweigt definitiv. Um allzu hochgegriffene Vergleiche in aller Bescheidenheit zu vermeiden. Der erste Auftritt des Protagonisten, der evoziert und (wie alle folgenden) datiert wird, 1970, auf einer griechischen Insel, ist einer in Sachen Notdurft.

Dornbusch, schweigend/Bouzouki, endlich gespielt/Strandschläferin, ablehnend. So die Überschriften der ersten drei, die Hippiezeit beschwörenden Passagen. Es folgen Schnappschüsse aus dem studentischen Alltag. Und solche aus der Zeit, in der man in einer Stadt wie Wien noch die Konfrontation mit Polizisten riskiert hat, wenn man im gepflegten Rasen öffentlicher Parkanlagen lagerte.

Es hat sich damals etwas getan – zwar haben die Imperien in Paris und Prag schon zurückgeschlagen, aber in Wien hat der Frühling noch eine ganz schöne Nachblüte. Die Sexualität will frei sein, die Kunst wollte das ja eigentlich schon längst, die Literatur darf in so einer vom Widerspruch gegen das Establishment bewegten Phase nicht einfach danebenstehen. Der Protagonist ist zu jener Zeit Redakteur einer Literaturzeitschrift mit dem anregenden Namen „Frischfleisch“. Dass er sein Selbst von damals heute noch so liebt wie sich selbst, dazu ist er zu beglückwünschen – narzisstisch sind andere Autorinnen und Autoren oft auch, aber selten so ungeniert.

Doch dieser Autor ist ja nicht nur ein erotisch, sondern auch ein politisch wacher Mensch. Folglich ist das Buch, das sich so scheinbar leicht und naiv um ihn dreht, nicht nur ein Buch über ihn, sondern – ja eben – auch über die Zeit, die seine Generation durchläuft. Somit ein etwas anderes Zeitdokument. Dass manche Passagen sogar ins Familienalbum der Alternativbewegung passen würden, ändert nichts an dieser Qualität.

Die politische Entwicklung wird im Großen und Ganzen aus der österreichischen Perspektive gespiegelt. Obwohl die Gelegenheit zum Durchatmen in leider auch
immer weniger alternativen Weltgegenden wie Griechenland, Anatolien oder La Go-mera genutzt wird. Signifikante Stationen der Erinnerung sind der Protest gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf, der Widerstand gegen die Schlägerung der Stopfenreuther Au bei Hainburg und das Unbehagen nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten. Die Stimmen, die dazu eingesetzt werden, sind die eines sinnierenden Mediensekretärs, eines unschuldigen Fernsehschirms und eines nicht angekommenen Koffers.

Das Lichtermeer auf dem Wiener Heldenplatz wird aus der Position des ominösen Balkons betrachtet. Und das bewachte Kanzleramt, von dem aus ein unterirdischer Gang zur Hofburg führt, kommt auch zu Wort. Nicht, dass der Autor glaubt, er kann diesen Gang, durch den der damals (im Jahr 2000) neue Kanzler mit seinem Team zur Angelobung gewieselt ist, besichtigen. Nur, weil er etwas mehr als 20 Jahre früher im ersten Stock den damaligen Kanzler interviewen durfte.

Kreisky, ja, stimmt. Es soll etwas jüngere Menschen geben, denen dieser Name nichts mehr sagt. Wer der bebrillte Herr auf dem Schutzumschlag ist, werden also womöglich nur die etwas Älteren erkennen. Ob sie auch Wegerth erkennen werden, der da im Gespräch mit dem Alten zu sehen ist, fragt sich. Aber in Zeiten der Ignoranz, in denen sich die Spitzen der Regierung monatelang zu gut sind, um sich noch mit Universitätsrektoren an einen Tisch zu setzen, ist die Erinnerung an einen Kanzler, der sich seinerzeit, wie man mit einem inzwischen auch außer Kurs geratenen Ausdruck sehr schön sagt, Zeit für ein Gespräch mit den Redakteuren einer alternativen Literaturzeitschrift genommen hat, ein Anlass zu kritischer Nostalgie.

Vermutlich finden viele, dass es so etwas nicht gibt. Ich aber bin mir dessen gar nicht so sicher. Ist dieses Buch nicht ein Beispiel für diese Haltung? Es gibt Haltungen, die mir weit weniger zusagen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2010)

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