Graues Häufchen Leben

Eine Jüdin überlebt als Krankenschwester in einem Altersheim den Weltkrieg in Wien: Mignon Langnas. Ihre beiden Kinder muss sie in die USA schicken. Als sie ihnen Mitte 1946 folgt, er-kennen Georg und Manuela die Mutter kaum mehr. Jetzt liegen Mignons Tagebücher und Briefe vor. Berührende Dokumente.

Der frühe Morgen des 26. Juni 1946: Eine Menschenmenge wartet im New Yorker Hafen auf die Ankunft der „Marine Perch“ aus Bremerhaven. Am Kai stehen auch George, früher Georg, und Manuela Langnas, elf und 13 Jahre alt. Sie haben von diesem Moment geträumt, seit sie Ende 1939 in Wien von ihrer Mutter, Mignon Langnas, Abschied genommen haben. Als diese endlich vor ihnen steht, erkennen sie sie kaum wieder – zu sehr hat sie sich verändert. Die Kinder haben sich inzwischen in der neuen Heimat eingelebt, ihre Muttersprache beinahe vergessen. In der Zeit, die Mignon noch mit Mann und Kindern verbringen kann, ehe sie im November 1949 mit nur 46 Jahren stirbt, bleibt sie von ihren wichtigsten Bezugspersonen wie durch eine unsichtbare Wand getrennt.

Jahrzehnte später, 2007, lernt die österreichische Medienwissenschaftlerin Elisabeth Fraller in New York George Langnas kennen. Er erzählt ihr von Tagebüchern und Briefen aus dem Nachlass seiner Mutter. Die Idee nimmt Gestalt an, diese persönlichen Dokumente, die zeitgeschichtliche Zeugnisse von einzigartigem Wert sind, in kommentierter Form zu veröffentlichen – auf Deutsch und in Österreich, wie George Langnas es ausdrücklich wünscht. Entstanden ist das Buch „Mignon“, das seiner Mutter ein würdiges und ergreifendes Denkmal setzt. Es öffnet den Blick auf „die Sichtweise des einzelnen, des vereinzelten Opfers“, wie Doron Rabinovici in seinem Nachwort schreibt.

Nur wenige der über 200.000 österreichischen Jüdinnen und Juden haben bis 1945 in Wien überlebt – Mignon ist eine von ihnen. In der Zeit der Verfolgung hat sie sich unermüdlich für andere eingesetzt, sich aufgeopfert. Durch ihr Schreiben hat sie sich einen eigenen, intimen Raum geschaffen, Platz für all ihre widerstreitenden Gefühle. Mignons Geschichte ist eine der Trennungen und Abschiede. 1939 verlässt ihr Mann, Leo, Wien mit einem kubanischen Visum, das sich als wertlos erweist. Nach wochenlanger Irrfahrt auf dem Dampfer St.Louis – Symbol einer unbarmherzigen Flüchtlingspolitik der „freien“ Welt – gelangt er, nach einem langen Zwischenaufenthalt im britischen Kitchener Camp, 1940 in die USA.

Mignon hat indes die Ausreise ihrer Kinder in die Wege geleitet – ein „gewaltiger Entschluss“. Georg und Manuela werden in New York in einem jüdischen Waisenhaus untergebracht. Mignon bleibt in Wien, kämpft verzweifelt um eine Ausreisemöglichkeit für sich und die betagten Eltern, doch eine bürokratische Hürde nach der anderen tut sich auf. Am Ende werden ihre Pläne durch die Gebrechlichkeit der Eltern, die Mignon nicht allein zurücklassen will, hinfällig – ein Entschluss, den ihr Mann nie akzeptieren kann. Der Kontakt zu den Angehörigen in Amerika wird wegen der kriegsbedingten Beschränkung im Postverkehr einzig durch die Cousine Hala in der Schweiz aufrechterhalten.

Im November 1940 stirbt Mignons Mutter an Krebs. Sie selbst hat sich in einem Kurs der jüdischen Gemeinde zur Krankenschwester ausbilden lassen und pflegt nun alte Patienten, später wechselt sie in das jüdische Kinderspital in der Ferdinandstraße 23. Sie kümmert sich um Waisen und Kinder, die nach der Flucht ihrer Eltern allein in Wien zurückgeblieben sind. „Ich habe gestern wieder einmal sehr geplärrt“, notiert sie, „weil ein kleiner Junge von 5 Jahren mich gebeten hat, – seine Mutti zu sein –. Wie sehne ich mich nach den Kinderchen!“

Die Situation spitzt sich zu. Ab 1941 wirddie jüdische Bevölkerung systematisch in den Osten deportiert. Während der großen Deportationswelle sollen im Spital auch Kinder, die bereits für die Verschickung eingeteilt sind, gesund gepflegt werden, damit sie „transportfähig“ sind. Von den Deportationen sind nur noch Juden in „privilegierten Mischehen“ und Angestellte der jüdischen Verwaltung ausgenommen, sofern diese – wie Mignon – als unentbehrlich „zurückgestellt“ worden sind. Doch als immer mehr Alte und Kranke den Gewaltmaßnahmen zum Opfer fallen, sinkt auch der Bedarf an Pflegepersonal. Am 30. November 1943 stirbtMignons Vater. Ihr bleibt nur die Genugtuung, dass den Eltern der schwere Weg erspart geblieben ist: „Mein Herz ist eine große blutende Wunde + meine Augen sind schon halbblind vom Heulen. Mir ist so bange – ich verstehe es schon gar nicht, wieso die Sonne scheinen kann.“ Ihren fernen Angehörigen gesteht sie: „Ich sehe Euch nur mehr wie durch einen Schleier.“

Im September 1944 beginnen schwere Luftangriffe der Alliierten auf Wien – die deutsche Niederlage zeichnet sich ab. Mignon aber grollt den Bomberpiloten, deren Einsätze auch die Verfolgten treffen – die, „die wir seit Jahren alles Leid der Welt tragen“. Ihre Wohnung in der Blumauergasse wird vollständig zerstört, ihr jüdischer Nachbar, Aba Herzig, schwer verletzt aus den Trümmern gezogen – „ein kleines, graues gebrochenes Häufchen Leben“. Mignon klammert sich an den Gedanken, dass der Schneider, der zu einem treuen Freund geworden ist, nicht stirbt, sie braucht diesen Sieg über das Unglück. Doch dann ist er tot. Ein Gefühl bodenloser Einsamkeit übermannt Mignon: „Mich erwartet niemand, – es sucht mich niemand – wenn ich jetzt für immer verschwinde, wird es Tage dauern – bis jemand nach mir fragt. Wer wird fragen?“

Nach der Befreiung hält sie nichts mehr im zerstörten Wien, in dem russische Besatzungssoldaten plündern und vergewaltigen, die Bevölkerung keine Spur von Läuterung erkennen lässt. Um rascher in die USA zu gelangen, überquert Mignon mit einer Gruppe KZ-Überlebender illegal die tschechische Grenze. Sie hat erfahren, dass für den 14. Juli 1945 ein Transport aus dem befreiten Lager Theresienstadt in die US-amerikanische Zone geplant ist. In Theresienstadt erkrankt sie an Typhus, wird, mit dem Tod ringend, in ein Lager für „Displaced Persons“ nach Deggendorf verlegt. Erst nach vielen Wochen erholt sie sich, Mitte 1946 erreicht sie die USA.

Auch Mignon muss nach dem Krieg die bittere Erfahrung machen, dass Juden, die der Vernichtung entgangen sind, generell mit Misstrauen begegnet wird. „Wie obszön ist doch diese Arroganz, die über die Überlebenden richten will und indirekt fordert, sie hätten sich zu rechtfertigen, nicht gefälligst ermordet worden zu sein“, schreibt Doron Rabinovici. Gerade im Fall von Mignon zielen etwaige Vorwürfe einer Kollaboration mit dem NS-Regime vollständig ins Leere. Vielmehr ist es ihr gelungen, in einer Zeit der Barbarei ihre menschliche Würde zu bewahren. Davon zeugt dieses Buch. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2010)

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