Der Mann, der aus dem Netz kam

Aufreger WikiLeaks: Seit Sommer 2010 beherrscht die Internet-Plattform die mediale Debatte. Zwei Journalisten stellen spannend die politischen Folgen dar, ein Autorenduo zeichnet kursorisch die Biografie des Gründers, Julian Assange, nach.

Es ist 5.30Uhr, 23.Oktober2010, die Londoner City erwacht, Straßenkehrer putzen die Paddington Station für den neuen Arbeitstag heraus. Für einen schlacksigen, bleichen Mann endet in diesen Minuten gerade der alte. Er rollt sich in seiner schwarzen Anzughose und dem braunen Roll-
kragenpulli unter einem Bürotisch im Journalistenklub „Frontline“ zusammen. Mehr als zweieinhalb Stunden Schlaf auf einem „abgetretenen, dreckigen Teppich“ werden es nicht, doch an Schlafdefizit hat sich Julian Assange längst gewöhnt.

Die Gestalt, die wie gestrandet auf dem Boden liegt, ist tatsächlich dieselbe Person, die in Schlagzeilen als „gefährlichster Mann der Welt“ firmiert. Es sind Szenen wie diese, von denen das Buch „Staatsfeind WikiLeaks“ der „Spiegel“-Autoren Marcel Rosenbach und Holger Stark lebt. Szenen, nach deren Lektüre sich die oft gebrauchte Apostrophierung des WikiLeaks-Gründers als eines „Besessenen“ mit Bedeutung füllt. Szenen, die einem das Gefühl vermitteln, der enigmatischen Gestalt etwas näherzukommen.

2011 wird das Jahr der arabischen Revolutionen, 2010 aber war das einer Informationsrevolution. Es war das Jahr von WikiLeaks. Die Enthüllungsplattform existiert zwar schon seit Ende 2006, doch erst vergangenes Jahr gelang es Assange und seinen wechselnden Mitstreitern, sich jene Aufmerksamkeit zu erkämpfen, auf die der Australier so lange hingearbeitet hatte. Es begann mit einem Schocker: Im April ging ein Video online, das zeigte, wie die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers in Bagdad Zivilisten tötete. Ende Juli folgte ein Schwall von 90.000 US-Feldberichten aus Afghanistan, wenig später fast 400.000 aus dem Irak und als Krönung Ende November die 250.000 US-Botschaftsdepeschen, von denen allerdings erst ein Bruchteil veröffentlicht ist.

Die Wirkung von WikiLeaks ist enorm: Die Plattform hält sich konstant in den Schlagzeilen, an Spitzentagen kamen die Agenturmeldungen im Dutzend herein. Substanzielle Diskussionen wurden losgetreten über Informationsfreiheit, über das Recht von Staaten, Geheimnisse zu bewahren, und das Recht der Öffentlichkeit, alles über das Handeln der Regierenden zu erfahren. Diskussionen über die Macht des Internets oder vielmehr derer, die es zu nutzen wissen.

Kein Wunder, dass eine Welle an Buchveröffentlichungen anrollt. Und da sind jene im Vorteil, die hautnah an den Ereignissen der zweiten Jahreshälfte 2010 dran waren. Dran sein konnten, weil Assange gemerkt hatte, dass Wirkung und Publizität ohne aktive Beteiligung der von ihm verachteten klassischen Medien nicht zu haben sind. „Ohne Journalisten scheint es nicht zu gehen“, schreiben Rosenbach/Stark genüsslich. Assanges Ansatz, auf die „Schwarmintelligenz“ im Internet zu setzen, hat sich als Schwärmerei entpuppt. „New York Times“, „Guardian“, „Spiegel“ – dieses Dreigestirn ist seit den Afghanistan-Papieren intensiv in die Arbeit von WikiLeaks eingebunden.

Das Buch der „Spiegel“-Autoren zieht seine Glaubwürdigkeit aus den reportageartigen Einsprengseln und den umfassenden, gut belegten Zusatzrecherchen. Auch zu den medial schon breit dargestellten Themen (Kriegstagebücher, Irak-Video) erfährt man interessante Details, erst recht über Assanges Leben vor WikiLeaks, seinen Weg vom Kind einer australischen Achtundsechzigerin zum Mann, der die US-Regierung das Fürchten lehrt. Bei ihrem Erziehungsziel, ihrem Sohn den Respekt vor Autoritäten zu nehmen, war die Mutter jedenfalls höchst erfolgreich.

Die Nähe zu WikiLeaks führt allerdings auch zu einem Mangel an kritischer Distanz gegenüber dem Projekt. Zu stark schimmert immer wieder die selbstzufriedene Gewissheit durch, auf der „richtigen“ Seite zu stehen. Das heißt nicht, dass Assange nicht sein Fett abbekommt: Er habe die „Unerbittlichkeit eines Stalinisten“, kann man da etwa lesen. Problematisch ist allerdings jener Ansatz, der die Aufgabe der Medien auf eine Kontrolle staatlichen Handelns verkürzt. Und wer kontrolliert WikiLeaks? Ist es wirklich ein „Versagen des Journalismus“, wenn in Medien kritisiert wird, dass die Veröffentlichung der Kriegsakten afghanische und irakische Informanten der US-Armee gefährdet, nur weil das auch die US-Regierung sagt? Wir lernen: Journalismus ist nur gut, wenn er sich gegen den Staat stellt.

Dennoch ist der Band in Summe eine spannend geschriebene, gelungene Darstellung des Sujets – was man vom fast zeitgleich erschienenen Biografieversuch „Julian Assange. Der Mann, der die Welt verändert“ des Autorenpaars Carsten Görig und Kathrin Nord weniger behaupten kann. Die wesentlichen Aspekte werden zwar behandelt, aber jeweils nur kursorisch und oberflächlich. Gerade im Vergleich fällt hier die Rechercheleistung mager aus, die sich im Wesentlichen auf Internet- und Sekundärquellen beschränkt haben dürfte, wie das Verzeichnis im Anhang nahelegt.

Quellen auszuwerten ist schön und gut, aber erst wenn man neue erschließt (wie die „Spiegel“-Autoren), ergibt sich ein Mehrwert. Wer sich halbwegs mit dem Thema beschäftigt hat, erfährt bei Nord/Görig wenig Neues. Und die offensichtlichen Ressentiments gegenüber Assange lassen einen unangenehmen Nachgeschmack zurück. ■

Marcel Rosenbach, Holger

Stark
Staatsfeind WikiLeaks

Wie eine Gruppe von Netzaktivisten die mächtigsten Nationen der Welt herausfordert. 336S., brosch., €15,50 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)



Carsten Görig, Kathrin

Nord
Julian Assange - Der Mann, der die Welt verändert

176S., brosch., €10,30 (Scorpio Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2011)

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