Du SMS-ler!

Ein gealterter Schauspieler geht von der Peripherie ins Zentrum einer Metropole und wird dabei zu einer Art Christus auf Wanderschaft. Peter Handkes Erzählung „Der Große Fall“ – eine Offenbarung.

Es beginnt mit einem Donnerschlag und – für Peter Handke – ungewöhnlich kurzen Sätzen: „Jener Tag, der mit dem Großen Fall endete, begann mit einem Morgengewitter. Der Mann, von dem hier erzählt werden soll, wurde geweckt von einem mächtigen Donnerschlag. Das Haus, mitsamt dem Bett, wird erzittert und für einen langen Augenblick nachgebebt haben. Augenblick: Das traf auf den Liegenden dort nicht zu. Aus dem Schlaf geschreckt, hielt er die Augen geschlossen und wartete, wie das Geschehen nun weiterginge.“

Wie geht's weiter? Mehr als 270 Seiten umspannt die neue Erzählung des Autors, und erst am Ende des einen Tages, der hier erzählt und dessen Geglücktsein auf eine harte Probe gestellt wird, erfährt man, was man sich unter dem titelgebenden „Großen Fall“ vorzustellen hat. Zunächst häufen sich kleine Fälle. Dem Mann, um den es geht – einen gealterten Schauspieler, der sich von seinem Beruf zurückgezogen hat, dann aber (so zumindest der Plan) am nächsten Tag doch noch einen Dreh beginnen will –, fallen morgens die Dinge aus der Hand. Eine Tasse zerbricht, eine Untertasse knallt auf den Tisch, ein Zitronenkern lässt sich partout nicht zwischen die Finger kriegen.

Der Weg, den der Schauspieler an diesem Tag nimmt, fügt sich relativ nahtlos in die Erzählmuster, denen Handke in seinen Prosabüchern gerne folgt. In einer solch kompakten, da und dort geradezu allegorisch werdenden Form indes wie im „Großen Fall“ ist jene Erzählstrecke vom Autor bisher noch nicht durchmessen worden. Von dem Haus an der Peripherie, in dem der Schauspieler morgens erwacht, geht er zu Fuß ins Zentrum der nahe gelegenen Metropole und wird dabei zusehends zu einer Art Christus auf Wanderschaft, grundiert von der Frage, ob dies nicht alles doch nur eine falsche Bewegung ist.

Die Stilistik des kurzen Satzes, die Handke an einigen Stellen zu höchst gewagten Verschachtelungen treibt (Übersetzer werden daran verrückt werden), gibt er schon nach wenigen Schritten wieder auf. Das ist gut so, denn die Art und Weise, in der der Schauspieler die Welt um ihn herum geradezu aufsaugt, und das Ansinnen des Erzählers, aus der Geschichte eine Offenbarung zu machen, sobald sich dazu die Gelegenheit bietet, brauchen als Trägermedium den langen Satz. Der Erzähler der Geschichte ist, um der Sache eine weitere Brechung zu geben,übrigens selbst nur ihr Adept. Irgendwo – und als Leser des Buches könnte man meinen: in einer biblischen Vorzeit – war die Geschichte wohl schon einmal im kollektiven Gedächtnis. Jetzt aber aktualisiert sie sich in jedem Augenblick der Nacherzählung.

Mitunter geht es dabei recht lustig zu. So trifft der Schauspieler, nachdem er zunächst eine Zeit lang den Wald durchstreift hat und dort auf Flüchtlinge, Bettler und andere Randexistenzen mitsamt deren „Gegengebrüll“ gestoßen ist, auf einer Lichtung eine Ansammlung von Menschen, die er das „neue Welttheater“ nennt. Seine ersten negativen Impulse gegen das hier versammelte„typisch Unschöne“ bis hin zum spontanen Bedürfnis, dem vorbeijoggenden Präsidenten ansatzlos ein Messer in den Bauch zu rammen, wollen so rasch nicht vergehen. Im Schreiben indes wird bei Handke die Welt besser, und in der Beschreibung gewinnt selbst noch diese Szenerie sukzessive einen anderen Sinn.

Was unter Aufbringung von Mountainbikes, ärmellosen Laufdressen und allen Varianten gesteigerten Aktivitätswahns eben noch wie die zeitgenössische Version eines Hieronymus-Bosch-Bildes ausgesehen hat, endet im Bild einer großen Gemeinschaft friedlicher Sammler. Ganz so, als ob der slap-stickartige Film, der eben noch auf dieser grandiosen Lichtung gespielt wurde, dann nur noch in Zeitlupe erscheint.

Auf seinem Weg in die Stadt, deren Zentrum er am Ende tatsächlich erreicht, treibt den Schauspieler eine Frage, und diese Frage drängt sich zusehends in den Vordergrund: Ist es möglich, einem anderen Menschen zu helfen oder ihn gar zu retten? Dass damit im Kern ein christologischer Komplex berührt ist, wird in Handkes Erzählung, die im hinteren Drittel wie zur Bestätigung in eine menschenleere Kirche führt, ebenso deutlich wie die Tatsache, dass der über Strecken durchaus mitleidvoll wandernde Schauspieler kein Heiliger ist. Sein Hass auf das, was man gemeinhin die Segnungen der Zivilisation nennt, und sein Jähzorn erreichen teilweise groteske Formen. Den Zitronenkern beispielsweise, der ihm in der Früh davonspringt, nennt er in einem wilden Wust von Beschimpfungen unter anderem einen „SMS-ler“. Dazu passt, dass der Schauspieler in dem Film, der ihm bevorsteht, mit einem Amokläufer zu tun hat, manchmal ist er selbst von einem solchen nicht recht zu unterscheiden.

Von Handke steckt in der Hauptfigur des Buches eine ganze Menge. Schon im letzten Stück, „Immer noch Sturm“, hat der Autor sich einer neuen Art der Kärntner Ahnenforschung zugewandt, und im „Großen Fall“ nun greift er spezifische Details seiner eigenen Biografie (vor allem das Verhältnis zu seinem leiblichen Vater) noch einmal auf. Angeregt ist er dazu wohl auch durch die Handke-Biografie worden, die der deutsche Journalist Malte Herwig voriges Jahr vorgelegt hat. In Form der Bezeichnung für eine Art von nassem Beton, die Handke in seinem Buch den „Malte“ nennt und wegen dessen die Finger des Schauspielers, der früher ein Fliesenleger war, immer noch „wund“seien, erweist er dem Mann, der seine Lebensgeschichte unter Aufbietung aller möglichen Sensationalisierungen dargestellt hat, eine kleine Reverenz.

Groß indes im Sinne großer Literatur sind die Antworten, die Handke in seinem Buch jener äußerlichen Art der Lebensbeschreibung erteilt. Im „Großen Fall“ ist der Vater ganz in den Gesamtzusammenhang des Textes eingepasst. In der Früh beim Rasieren schneidet der Schauspieler mit einer kleinen Schere noch lange um die wenigen roten Barthaare herum, die ihn von der Farbe her an den Vater erinnern. Gegen Ende des Textes schreibt er dann einen Brief an den eigenen Sohn, der nicht allein Malte Herwig, sondern gleich auch Franz Kafka umkehrt, den Handke einmal etwas spöttisch als den „ewigen Sohn“ tituliert hat.

Ein ewiger Sohn soll man nicht bleiben. Und so macht der Brief des Schauspielers an seinen Sohn ihn selbst erst eigentlich zum Vater, geendet in dem schönen Satz: „Und so erwarte ich: dein Urteil als dein Vater.“ Wie aber endet „Der Große Fall“? Entweder im Krieg, den der Präsident am Abend im Fernsehen erklärt, oder gar doch in der Liebe? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2011)

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