Verschleiß statt Verrat

Drei Lebenswege kreuzen sich: jener Trotzkis, der seines Atten-täters und der des kubanischen Schriftstellers Iván. In seinem groß angelegten Roman „Der Mann, der Hunde liebte“ taucht Leonardo Padura tief in die europäische Geschichte ein.

Iván, ein von der Revolution gerüffelter Schriftsteller, pflegt in seinem resignierenden Alltag beim Lesen am Strand unweit von Havanna auf den Sonnenuntergang zu warten. Diesmal, an einem Märztag 1977, begegnet er einem gebrechlichen Alten, der zwei russische Windhunde – elegante Borsois – ausführt. Das mutet Iván merkwürdig an, denn er liest gerade die Mördergeschichte von Raymond Chandler „Der Mann, der Hunde liebte“. Leonardo Padura, Meister des postrevolutionären Krimis („Havanna-Quartett“), lässt Iván grausam in die Falle eines Gesprächs mit dem Hundehalter tappen. Erst viele Seiten später wird er begreifen, dass er dem bösartigsten Attentäter des 20.Jahrhunderts begegnet ist: Ramón Mercader, einem Katalanen, der am 20. August 1940 in Mexiko-Stadt Leo Trotzki mit einem Eispickel den Schädel spaltete.

Gleich, ob Gespenst oder Wirklichkeit – Kriminalroman der routinierten Art kann das keiner mehr werden. In einer enormen Kraftanstrengung – die deutsche Ausgabe schafft 730 Seiten – taucht der kubanische Autor in die europäische Geschichte ein und schildert drei ineinander verschachtelte Lebenswege: den Trotzkis, den seines Attentäters und den des Kubaners Iván, dem der geheimnisumwitterte Pensionist unter falschem Namen die – eigene – Geschichte des Attentats erzählt. Welche der inzwischen verstummte Schriftsteller Iván dann doch aufschreibt, um sie schließlich als Manuskript seinem Freund – natürlich unserem Autor – zu vermachen.

Drei Erzählstränge also: Leo Trotzki – im Roman (Padura legt Wert auf das Romanhafte!) meist mit seinem bürgerlichen Decknamen Lew Dawidowitsch (für Lejb Bron- stejn) – schafft mit den Exilstationen Alma Ata – Türkei – Frankreich – Norwegen – Mexiko während der Jahre 1928 bis 1940, immer bösartiger verfolgt von Stalin, der Trotzkistisches überall ausrotten lässt, ein Drittel des Buchumfanges. Kein Zweifel: Padura mag Trotzki (deswegen auch die liebevolle Schilderung seiner amourösen Avancen bei Frida Kahlo), ohne zu verleugnen, dass der Theoretiker der permanenten Revolution als Kommandeur der Roten Armee den Terrorapparat in die Welt setzte, der ihn schließlich selber verschlingen sollte. Aber die Reinheit der Botschaft, die Menschheit ein für allemal von Knechtung und Ausbeutung zu befreien, gesteht er dem Erzrevolutionär zu.

Für den Trotzki-Teil musste Autor Padura Geschichte büffeln. Und wie! Für das Drittel über den Attentäter, über den wir nur wenig wissen, springt die literarische Imagination ein. Padura will erklären, wieso ein spanischer Kommunist, zuerst blutjung im Bürgerkrieg, unter Aufsicht eines stalinistischen Führungsoffiziers nach jahrelangem Mentaltraining skrupellos Trotzki in dessen zu einer Festung ausgebauten Haus in der calle Viena (Wien-Straße!) in Mexiko erschlug – was eigentlich auch ein Romancier nicht wirklich entschlüsseln kann.

Trittsicherer bewegt sich Autor Padura bei der Schilderung einer Verführung, eingefädelt von stalinistischen Agenten, die der Attentäter mit der naiven Trotzkistin Sylvia aus New York spielt, unattraktiv und daher dem feschen, als reicher Bourgeois getarnten Spanier sofort verfallen; denn sie verschafft ihm den fatalen Zutritt zum hermetisch abgeschirmten Trotzki. (In dem Trotzki-Film von Joseph Losey, 1972, spielt Romy Schneider die Sylvia, umgarnt von Alain Delon, der Richard Burton erschlagen muss.)

In dem „Apokalypse“ betitelten Schlussteil lässt Padura den Trotzki-Attentäter (nach 20 Jahren mit versiegelten Lippen ertragenem Gefängnis in Mexiko) noch einmal mit seinem Führungsoffizier in Moskau bei viel Wodka zusammentreffen, wenige Tage nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, August 1968, was beide ideologisch doch verunsichert. Denn angesichts ihrer vom Stalinismus verratenen Utopie fällt alles auseinander, was den todkranken Attentäter, in die Sonne von Kuba entlassen, zum heimlichen Erzählen seiner Geschichte bewegt.

Kehren wir beim dritten Erzählstrang ein, der in Zeitsprüngen (1977, 1983, 1993, 2004) nicht nur das Manuskript ausbrütet, sondern den eigentlichen, für Autor Padura wichtigen Subtext liefert. Wie bereits in den Bänden des „Havanna-Quartetts“ erlesbar, gehört Padura zur „verlorenen Generation“ auf Kuba, die nur Fidel Castro kennt.

Castro ist kein Stalin. Aber er hat seine Untertanen überfordert: Im antiimperialistischen Kampf, beim Zuckerrohrschneiden, mit revolutionärer Wachsamkeit, bei sich rasch abwechselnden Wirtschaftssprüngen, die das Land bis auf die Knochen abmagerten, mit miserablen Wohnungen, mit Versorgungsengpässen, im beschwerlichen Alltag, ohne dass es je besser wurde. Schließlich ging ihnen die Puste aus. Nicht Verrat, sondern Verschleiß der Utopie ließ Kuba versteinern. So ist es nur folgerichtig, dass Iván im Schlaf in seiner baufälligen Dachwohnung von der einstürzenden Zimmerdecke erschlagen wird (eine im heutigen Havanna fast alltägliche Tragödie.) Der Schutthaufen wird zum passenden Mausoleum für den erstickten kubanischen Traum, der einst uns Europäer begeistert hat. Iván hört damit auf, eine schreibende Person zu sein, um sich in eine Figur innerhalb des Geschriebenen zu verwandeln.

Leonardo Padura, beileibe kein Dissident, ließ alle seine frechen Krimis in Spanien verlegen, auch „Der Mann, der Hunde liebte“ (Tusquets Editores, Barcelona, 2009). In Havanna durfte verspätet nur eine ziemlich lieblos gemachte Edition mit 4000 Exemplaren, extra für die Buchmesse 2011, erscheinen. Sie war sofort ausverkauft. Kein offizieller Buchladen führt den Titel. Nach mühsamen Suchen in grindigen Hinterhofläden erhandelten wir glücklich dann doch noch ein gehortetes Exemplar.

Padura schreibt ein dichtes, lapidares Spanisch, das kubanisch derb daherkommen kann und mit Flüchen und Kraftausdrücken nicht spart. Übersetzer Hans-Joachim Hartstein optierte für eine deutsche Fassung, die mit Eleganz die Grobheiten des Originals überdeckt und flüssig zu lesen ist. Kurioserweise lässt er bei Ortsnamen aus, denn Amberes ist Antwerpen, oder Burdeos ist Bordeaux et cetera. Auch sind wir inzwischen alle politisch so korrekt, dass ein „Neger“ nur ein „Schwarzer“ (der im Buch als Chauffeur eine Rolle spielt) sein darf. Im Original ist er als pechschwarzer Afrokubaner natürlich „un negro“ – was zum stolzen Selbstverständnis Kubas gehört. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2011)

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