Ich bin Kain, der Engel

In dem nachgelassenen Roman "Kain" lässt José Saramago den Brudermörder durch das Alte Testament wandern und Gottes Heilsplan durchkreuzen. Mit überraschenden Ergebnissen.

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeiten mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn.“ Dieser Satz lässt sich als Zusammenfassung jener Geschichte lesen, die José Saramago in seinem letzten, nun posthum auf Deutsch erschienenen Roman „Kain“ erzählt. Sie hat einen Anfang, nämlich bei Adam und Eva, aber – anders als der Roman, der wie jedes Buch ein Ende finden muss – kein Ende: Denn die Geschichte der Uneinigkeiten der Menschheit mit Gott dauert an.

Mit seinem Roman über den Brudermörder Kain ist der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger, dessen literarische Bedeutung man auch mit Etiketten wie „Atheist“ und „Kommunist“ nicht schmälern kann, stellenweise womöglich näher an den Abgründen des Glaubens als so manches Süßholzgeraspel in sonntäglichen Predigten. Saramago lässt seine Figuren mit Gott hadern, mit diesem eifersüchtigen, harten, ungerechten Gott, und er steht damit in bester biblischer Tradition. Die Antworten der Theologen haben sich verändert, manches wurde verständlicher gemacht und leichter verdaulich, manches aber ist und bleibt unverständlich und fordert das Aufbegehren geradezu heraus. Vor allem die Theodizeefrage haben Schriftsteller wieder und wieder literarisch gestellt: Warum lässt Gott so viel Leid zu?

Der biblische Kampf mit Gott, das Ringen und Hadern mit ihm: Wenn Saramago einen Roman daraus macht, wird das verstören: Das war zu erwarten. Immerhin hat der streitbare Autor bereits 1991 für Entrüstung gesorgt, als „Das Evangelium nach Jesus Christus“ erschienen ist, dessentwegen das portugiesische Kulturministerium Saramagos Nennung für den Europäischen Literaturpreis zurückgenommen hat. Und der „Osservatore Romano“ nannte in seinem Nachruf im vergangenen Jahr den bekennenden Kommunisten einen „populistischen Extremisten“. Doch kann es Schriftstellern, ob atheistisch, ob gläubig, nicht verboten sein zu erzählen, dass Jesus im Sterben begriff, dass er „hinter das Licht geführt worden war“. Ein solches Bild umreißt zudem das biblisch erzählte Gottverlassenheitsgefühl ziemlich gut. Saramago hat sich im „Evangelium nach Jesus Christus“ vor allem an den Themen Schuld, Opfer und Heilsplan abgearbeitet, es sind auch die Themen, die die biblische Kainsgeschichte prägen.

Die Beispiele platter Bibelnacherzählungen sind Legion. Literatur, die biblische Texte weiter- beziehungsweise umschreibt, tut gut daran, wenn sie nicht an der wörtlichen Vorlage kleben bleibt und diese womöglich buchstäblich und fundamentalistisch versteht, sondern wenn sie sie neu und anders erzählt. Im Großen und Ganzen tut Saramago das, und sein narrativer Kniff zeugt zugleich von einem bestimmten Verständnis von Geschichte: Denn aus einer linearen Heilsgeschichte schreibt Saramago die Zeitebenen zusammen.

Kain durchwandert verschiedene Episoden des Alten Testaments, alle sind Gegenwart, und Kain ist darin präsent: „Dann befinden wir uns also in der Zukunft, fragen wir. Ja, das ist die übliche Formel zur Erklärung dessen, was sich hier offenbar ereignet hat, die Zukunft, sagen wir, und atmen beruhigt auf, denn nun haben wir es ja mit einem Etikett versehen, es benannt, doch kämen wir unserer Meinung nach weit besser damit zurecht, wenn wir es eine andere Gegenwart nennen würden, denn die Erde ist doch dieselbe, nur die jeweilige Gegenwart ändert sich, mal ist es eine vergangene Gegenwart, dann wieder eine künftige, das ist ganz einfach, jedermann wird das begreifen.“ Der biblische Kain hat seinen Bruder Abel umgebracht und muss mit dieser Schuld fortan leben. So erzählt es das Buch Genesis 4.

Im Alten Testament verlieren wir den Schuldbeladenen aus dem Blick, doch Saramago lässt den Brudermörder nicht aus den Augen. Der Verfemte und Gehetzte, „verfolgt von den eigenen Schritten“, zieht durch Gottes (Un-)Heilsgeschichte. Kain ist anwesend, als drei Männer Sara verkünden, dass sie ein Kind bekommen wird, er wird Zeuge der Vernichtung von Sodom und Gomorrha, er erlebt die Bestrafung für das Goldene Kalb und Hiobs Leid – und er hadert mit den Entscheidungen des Herrn. In Sodom gab es sicher Unschuldige, nämlich die Kinder, meint Kain zu Abraham, und: „Vielleicht ist er dein Gott, aber der Gott der Kinder war er nicht.“

Der Brudermörder ist also in der Geschichte des Menschen stets präsent. Aber anders, als man vielleicht vermuten würde. Wenn Kain etwa auf Abraham und Isaak trifft, verhindert gerade er das Menschenopfer. Erhellende und berührende Stellen wechseln in diesem Roman ab mit Textpassagen, die grundlos in die Farce abgleiten. Als Beispiel sei die Isaak-Geschichte erwähnt. Nicht der von Gott gesandte Engel hält Abraham in Saramagos Roman davon ab, seinen eigenen Sohn für Gott zu töten, sondern Kain. „Ich bin Kain, ich bin der Engel“, heißt es wunderbar verstörend. Der Engel, den Gott gesandt hat, kommt nämlich zu spät. Doch die Begründung dafür erinnert dann an einen Bühnenschwank: Der Engel hätte ein „mechanisches Problem“ mit seinem rechten Flügel gehabt und überhaupt Mühe, „hierherzufinden“. Hier fällt Saramagos biblische Relektüre ins Banale ab, auch als kritische Dekonstruktion taugen solche Einfälle nicht. Und ab und zu verdrängt Verbissenheit (auch gegen Juden und Moslems) die typische (und kluge) Saramago-Ironie.

Doch die großen Fragen, die Saramago aufwirft, indem er den Brudermörder durch das Alte Testament wandern lässt, lohnen die Lektüre auch der weniger gelungenen Details. Was nützt eine rettende Arche, wenn ein Mörder an Bord ist? Kain wird Gottes Heilsplan durchkreuzen und in Noahs Arche überlebt außer den Tieren nur der Mörder.

Das Ende ist kein Ende, denn Kain und Gott diskutieren immer noch. Am Anfang (des Romans) baute Gott dem Menschen eine „Zunge“ ein: einerseits ein beweglicher Muskel, andererseits die Sprache, die man wie Kain (und wie Saramago) auch zum Widerspruch nützen kann. Gott schuf sich seinen Widerspruch und mit dem Menschen einen, der seine Heilspläne nicht nur hinterfragt, sondern auch zu durchkreuzen weiß.

„Kain“ erschien 2009 in Portugal, ein halbes Jahr, bevor Saramago auf Lanzarote starb. Liest man den letzten Satz, so klingt er wie ein Abschluss. „Die Geschichte ist zu Ende, mehr gibt es nicht zu erzählen.“ Aber fast ist einem nach der Lektüre, als hörte man irgendwo Stimmen: Saramago, wie er mit Gott hadert, immer noch. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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