Mamaland

„Ich löse mich auf, werde zur Mutter die meiste Zeit, werde so gesehen, betrachtet von außen, nehme eine Rolle ein, werde gefilmt. Nicht mehr ich fühle, sondern ich werde gefühlt.“ Aus einem Roman in Arbeit.

1. Chicago transpiriert. Vom Flugzeug aus, vor der Landung, ist die weite Fläche aus Häusern zu sehen und kurz vorm See, die Hochhäuser, gute alte Wolkenkratzer aus Stahl und Keramik, grelle neue Lego-Wolkenkratzer aus spiegelndem Glas. Danach zieht der Flieger eine Schleife über die ausgedehnte Wasserfläche, der den Anwohnern im Sommer Abkühlung schenkt und im Winter eisigen Wind vom Polarkreis durch die Häuserreihen treibt. Meist kommt das Wetter vom See her. Entweder schwülheiße Drift, oder scharfer Eiswind, der ins Gesicht beißt. Gerötete Haut entweder aus Hitze oder aus Kälte.

Angekommen drücke ich die schwere, abgestoßene Türe auf, den Scheck mit der Miete habe ich im Vorhang- und Bettwäschegeschäft rechts neben dem Eingang abgegeben. Hinter dem Verkaufstisch verbringt ein müder, zusammengesunkener Männerkörper, in Anzug und Krawatte, sein Leben zwischen Acrylwolldecken in Plastikhüllen, erwacht bloß, um Geld entgegenzunehmen. Ich hieve den auf der Schwelle zusammengefalteten Kinderwagen die steile Holztreppe hoch, Baby und Wickeltasche in der anderen Hand, und schnuppere staubige Muffigkeit. Das Haus riecht nach altem Holz, in der Wohnung ist der Geruch durch lackierte Oberflächen gedämpft. Auf der Terrasse mischt sich Aroma von Teer mit der süßen Schwere von sonnenbeschienenen verwitterten Brettern, grau gewordene Balken, aus denen die Balkone gezimmert sind. Manchmal leichte Brisen von Autoabgasen, das Wohnhaus liegt an einer heftig befahrenen Kreuzung.

Als ich Vorräte einkaufen gehe in den Supermarkt, empfängt mich Gestank wie im Inneren eines selten gereinigten Kühlschranks, der auf geringer Stufe läuft. Diese Duftnote erlaubt gerade noch die Vorstellung von Frische, die dem ständigen Verfallvon Lebensmitteln mühsam abgerungen wird. Schmelzen, Anfaulen undwieder Kühlen. Nie wird in diesen Vitrinen abgetaut. Außer der Strom fällt aus. Dann türmen sich die Warenkartons in dicken Wasserlachen. Das verdorbene Essenwird rasch hinters Haus geräumt. Ungewaschene Kleider auf ungewaschenen Körpern tragen zum Aroma bei.

Sitze ich mit dem Baby auf der geteerten Terrasse, lausche ich einem Konzert: das betuliche Surren der Klimaanlage des Ladens unter uns, der Autolärm, Hupen, Streiterei der Obdachlosen hinterm Haus. Ich trinke kleine Schlucke malzig dünnen Biers, schmecke salzig scharfen Cheddar-Käse, füttere das Baby mit Maismehl, backe Kuchen aus schleimigem Kürbisbrei, der Spiritusgeruch von Wochenend-Barbecues weiht mich in die Bräuche Chicagos ein. Abends nach sieben Uhr verlasse ich das Haus nicht mehr, höre bloß die Knallereien, echte Waffen, erzählt der Nachbar, während ich Lila in den Schlaf singe und das Baby bereits schläft. Ich höre die mikrofonverstärkten Stimmen von Polizisten in Einsatzwägen, das abgehackte Grummeln des Lautsprechers, das Heulen der Sirenen, das Getröte der Feuerwehr, das Gekreisch von Teenagern an der Busstation.

Lila schnuppert an Dollarscheinen.

Mhm, Geld riecht gut.

Sie hockt auf dem Teppich, den wir wie alle anderen Möbelstücke übernommen haben, als wir eingezogen sind. Kein einziges Teil trägt unsere Handschrift. Wir haben uns heimisch gemacht in diesem Palast, in einer Hülle, die von einem schwulen Paar entworfen worden war, das sich später trennte. Sie hatten sich ihr Geld mit Innendekoration für reiche Leute verdient, Menschen, die ihren Wohnungen den Anstrich des Alten geben wollten, die nach Patina verlangten, Old-World-Style: Wände, auf denen verschiedene Schichten von Anstrich als Flecken sichtbar bleiben, Andeutungen von Ornamenten, mit Kupferpigmenten dekorativ gerostete Badewanne, abgeschliffene Schränke, falsche Louis-XV-Stühle, schwer wirkende Schatztruhen, violette Samtvorhänge, flackernde Kandelaber, Reste von Wandmalereien, alles Fake. Ein Einraumschloss. Lila mag das.

Sie sitzt auf dem Teppich, ein falscher Berber in Beige und Braun, zusammen mit ihrer Freundin Ruby.

Let's pretend!

Yeah.

Let's pretend I am a princess.

Let's pretend I am a princess too.

Let's pretend I am a princess and my name is Alyssa.

Let's pretend I am a princess and my name is Alyssa too.

Sie lachen, zerren an den Locken der alten Barbies, Geschenk der Nachbarin, beginnen einen Kampf, in dem sie die schmalen Plastikpuppen als Schwerter einsetzen, bis eine von ihnen zu Boden fällt und weint.

Ruby weint gern.

Lila tröstet sie mit Erdnuss-Keksen und rosa Limonade. Sie dürfen allein nur auf die Terrasse. Können niemals ohne Begleitung ins Freie. Zu gefährlich. Wenn sie in den Park wollen, muss ich mit. Auf der Schwelle vor der Haustüre eröffnet ein Tamales-Händler seinen Laden. Aus einer Plastiktasche mit Tüchern und Polstern zum Warmhalten holt er die sorgfältig in Butterbrotpapier verpackten Rollen heraus. Ich schiebe den Kinderwagen über kaputte Gehsteigplatten, umschiffe Lücken. Die Mädchen laufen voraus. Am Eingang zum Park das Glockengebimmel der Wägelchen für Eislutscher. Mango, Kokos, Erdbeer, Papaya. Alles kostet 50 Cent. Auf den Bänken sitzen die jungen Mütter und trinken mit Rum versetzte Cola, die Flasche sorgfältig mit braunem Packpapier verhüllt. Nie darf ich die Mädchen aus den Augen lassen.

Lila hat den Glücksblick. Wann immer sie länger auf ein Stück Gras schaut, findet sie vierblättrigen Klee. Sogar hier. Für Momente glaube ich, mein Leben sei schön.


2. Ich löse mich auf, werde zur Mutter die meiste Zeit, werde so gesehen, betrachtet von außen, nehme eine Rolle ein, werde gefilmt. Nicht mehr ich fühle, sondern ich werde gefühlt. Die Hand wackelt den Bären aus Plüsch, die Hand auf dem Muster aus Wolle, Muttermuster. Ich locke das Lachen aus dem Baby heraus. Ich spreche durch das Ding aus Plüsch zum Kind, und es spricht zurück. Pom pom pom.

Wir gehen in denZoo. Die Mädchen laufen voraus. Lila und Ru- by, frech wie immer. – Look flamingos, flaminco. – Nope, flamenco. – Tiger sleeping tiger, yawning lion. Way up to the roof and higher. – Tiger tiger look at me.

Die Mutter blickt am meterhohen Hals einer Giraffe hoch, sinniert über die Verteilung der Flecken, schiebt den blauen Kinderwagen langsam vorbei am Stall. Nächstes Gehege. Die Mutter bleckt ihre Zähne in der Sonne, gut gelaunt.

Lila und Ruby: We are hungry. Wir müssen noch ins hot house und Popcorn haben.

Es ist warm, die Menschen in leichten Kleidern, junge Männer spielen Fußball am Strand, Autos stinken. Die Mutter lächelt. Ausnahmsweise ist sie froh. In weiten Hosen, weitem Hemd, weiter Jacke. Die Haare fliegen ihr ums Gesicht. Ich sehe ihren Körper nicht, nur ihr Bewegen. Sie schießt den Ball.

Mama, können wir hier liegen?

Familie zu sein ist angenehm an einem Sonntagvormittag: eine Frau, ein Mann, der filmt, zwei Kinder und ein Ball. Sich selbst genug, eine Möwe. Lagern im Gras am Seeufer. Die Freude, nahe am Wasser zu sein. Genießen ohne Kommentar. Die Mutter schnalzt mit der Zunge, damit das Baby singt. Ihr Körper ist ein Klettergerät. Das Baby zieht sich hoch an den Falten der Hose, reißt daran und steht, das erste Mal. Danach Brunch. Familie trifft auf Familie und wird in der Doppelung bestärkt. Eine zeigt sich an der anderen. Im Essen und Reden sind sie sich eins. Und über die Liebe zu den Kindern. Über das Gurren und Schnattern, das Sich-Herabbeugen zu den Babys.

Smiley little baby, smiley girl, smiley kid.

Die Mutter fährt mit dem Blick über das Kind. Überzieht es mit ihrem Schauen.

Auch die Kinder schaukeln sich gegenseitig in das Familiengefühl. Während sich die Eltern sorgen.

Wie soll man ihnen den Akzent der Stadt abgewöhnen?

Es ist nicht leicht.

Man soll sie nicht dauernd korrigieren.

Das wird schon.

Smiley girl eins.

Smiley girl zwei.

Smiley giiiiiirl.

Und die Mutter im Hintergrund, ein langer Schatten, ein dunkles stetiges Etwas aus Jeans, Jersey, Wolle, Fleisch, das Saft nachschenkt, Toasts bringt, Brösel vom Tisch kehrt. Mit gesenktem Kopf hält sie Stellung, bewahrt den Überblick, muss ein Monument sein für andere.

Die Mutter will nicht gesehen sein. Bildeteine Sitzfläche für das Baby. Teilnahmslos und stolz. Weil sie wachsen und schön sind, erscheinen die Kinder im Mittelpunkt, während die Mutter sich um sie herum bewegt, inRockfalten, Bademantelärmel, in Bruststreifen zerlegt. Und die Mutter ist der Vorhang ihrer Haare, aus dem das Gesicht des Babys schaut. Sie lacht es an, damit es lacht im Bild, ihre Lippen sind geschminkt, der Druckerdruckt, während das Kind seinen kahlen Kopfgegen die Streifen ihres Pullovers lehnt.

Auch in der Küche wird die Mutter eingefangen, die Rolle gehört ganz ihr. Sie hingegenmotzt und klagt und will sich später nicht sehen am Film, als eine, die den Schmutz wegräumt, als eine, die putzt. Nein, sie schmollt. Zieht die Schultern und den Kopf ein.

Und wer ist das?

Das bin ich.

Und wer ist ich?

Ich ist das Kind.

Aber spuck nicht rein.

Spuck nicht in die Linse.

Das Kind steckt seine Hand ins Bild. Auf dem Teppich. Die Mutter ist in der Küche. Bloß hörbar.

3. Die Schule gibt ein Konzert. Lila singt im Chor. Lädt alle Eltern herzlich ein.

Doch das Baby mag es nicht still, nie ohne Bewegung, und so beugt sich die Mutter zu ihm hin. Ihr Lächeln ist fürs Kind bestimmt. Sogar wenn der Wind an ihren Haaren zieht, die Fransen flattern, nachdem sie aus dem Auto stieg, streicht sie mit der Handfläche über den nahezu kahlen Kopf des Babys.

Du wirst deine Schwester sehen.

Lila singt, steht in der ersten Reihe, gekleidet wie alle anderen in Blau, Weiß und Rot. Die Farben des Landes, dessen Sprache sie sprechen, sind gleichzeitig die Farben des Landes, in dem sie wohnen. Eine französischeSchule in Chicago. Die kleinen Zuhörer indessen müssen ruhig sein. Stimmen setzen ein.

Love love love love love love love ist easy ah ah ah ah ah, love love love love love ist easy. All you need is love. Love is all you need.

Das Baby kreischt, schnappt sich den Hut und die Mutter peinlich berührt, Mundwinkel verzogen, schneller Blick über die Schultern, ob das jemanden stört, und das Baby ist still, und sie ist gerührt. Und es schreit erneut, und sie ist verstört, lacht es fort, und das Baby schweigt, Anspannung ist der Mutter ins Gesicht geschrieben. Während auch andere Babys sich über den Schoß der Mütter erheben und zusammenknicken im nächsten Moment.

Your are the sunshine of my life und I will always be around. You are the apple of my eyes, forever you stay in my heart, in my heeeart, in my heart.

Ergriffenheit ist ins Gesicht der Mutter gezeichnet, glänzende Augen, weil das ihr Leben ist, hier an diesem Ort in dieser Geschichte, in einer Familie.


4. Lila macht Karate. I am gonna kick you down. Even my brother. Die Mutter eilt herbei so schnell sie kann, empört.

Nein, du wirst dem Baby nicht wehtun.

Not fair. Ich will.

Gelächter. Lila kämpft sich aus dem Bild. Die Mutter räumt den Raum frei. Das Kind braucht Platz für die Show, und das Baby klagt sich ein, will dabei sein.

Wow!

Die Mutter bewundert die Geschwindigkeit, mit der die Tochter ihre Karateübung vorführt, während sie das Baby packt, ihm den Apfel hinhält, damit es beißen kann. Ihr Busen ist sein Hintergrund, grelles Rosa, leichter Glanz. Die Tochter will dabei sein, und die Mutter dazwischen reibt sich auf.

Hier hier hier hier, schau hierher!

Alles wird Teil einer Geschichte sein, viele Jahre danach.

Die Mutter teilt den Apfel mit dem Baby, und das Mädchen trommelt auf das Gehäuse der Waschmaschine, produziert Rhythmus, Sound. Das Baby will an allem teilhaben, will in jeder Bewegung und jedem Ding eingebracht sein, und die Mutter muss nachgeben, auch wenn sie nicht will. Einmal den Arm bewegen, ohne gehindert zu sein vom Kind. Sie zieht dem Baby die Hose aus.

My New York.

Buchstabiert Lila.

Kannst du schon lesen?

Super cool.

Die Mutter befördert das Baby ins Bad, aus dem Bild.

Du wirst hier bald leben in New York.

Nein, werde ich nicht.

Doch, du wirst.

Das ist meine Mama.

Ist sie verheiratet?

Ja, Lila deutet auf den Ring.

Das ist ein Ring aus Mexiko.

Die Mutter ist das Transportmittel für die Teller vom Tisch weg an die Spüle.

Arschland, Arschland!

Sag keine unanständigen Worte, Lila.

Das bist doch du. Du sagst immer Arschland.

Weil die Straße so heißt.

Nein. Die heißt Ashland.

Kann ich dir was erzählen?

Ponk ponk, stapelt einen Teller auf den anderen, klack klack klack Holzpantoffeln aufgeschliffenen Dielen, hin und her, Teller, Tischund Spüle, ponk ponk, und klack klack klack,Teller Tisch Spüle in einer grellen rosa Stoffbluse mit Händen dran mit einem Ring dran.

Das Baby, kümmert euch darum.

Am Grund des Bierglases schimmert ein Rest, gelblich blass. Bloße Füße in Holzpantoffeln, ein Stück Hosenstoff und eine Hand, die hebt Babykleidung auf, sammelt sie ein. Als der Blick erneut auf die Mutter fällt, schluckt sie die Neige und bricht in Gefühle aus wie Wut, wirft das Handtuch ins Bild mit verkniffenen Lippen.

Schluss jetzt! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2011)

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