Das Album aus Israel

„Dad geht hinüber und durchsucht den Mann nach einem Sprengsatz. In diesem Moment stürzt ein Teil der Hauswand über ihm ein. Ich laufe schreiend zu meinem Dad. Im aufwirbelnden Staub verschwindet alles. Niemand ist mehr da, um ihn zu retten.“ Beginn eines Romans.

Die gestern über den britischen Inseln aufgetauchte Barometerdepression hat sich erheblichvertieft, während das nördliche Minimum sich etwas abgeflacht hat. Im Nordwesten herrscht vorwiegend trübes, in Osten und Süden meist unbeständiges Wetter mit zahlreichen Schneefällen. Die Temperatur ist im Westen gestiegen, im Osten gesunken. Im Allgemeinen bleibt das Wetter sehr kalt.


London, 2. Februar 2009, 1.42 Uhr
Monoton wie Leonard Cohen summt mein Dad die Melodie. Mit starrem Gesicht. Zwischen den Zähnen fließen kaum hörbar zögerliche Worte hervor:
And who by fire? Who by water?
Who in the sunshine? Who in the night time?
Who by high ordeal? Who by common trial?
Who in your merry, merry month of May?
Who by very slow decay?
And who shall I say is calling?

Eiskalt ist es in dieser Nacht. Wir kauern im Garten des Nachbarhauses. Versteckt unter dem Treppenaufgang. Ganz fest drücke ich mich an meinen Dad. Ganz fest. Er legt beide Arme um mich. Wärmen tun sie nicht. Ich friere. Ich friere die ganze Zeit, obwohl ich zwei paar Socken in den übergroßen Stiefeln trage und der Einsatz vorbei ist. Die Munition ist leergeschossen. Immer wieder zähle ich die Stufen über mir. Sieben rauf und sieben runter.

Eine Tür schlägt. Schritte über uns.Schleppend und dumpf. Ein Junge, nicht älter als ich, steigt die Treppe herunter. Mit beiden Händen zieht er einen großen schwarzen Plastiksack zu den Mülleimern und schafft es nicht, den schweren Sack in den Container zu befördern. Er dreht sich um und bemerkt uns vier unterhalb der Stufen. Erschrocken bleibt er stehen. Dad ruft ihm auf Arabisch zu, er solle sofort ins Haus zurückgehen und dort bleiben. Die ganze Gegend sei von Soldaten umstellt.

Nachtstunden vergehen schleppend. Dad wiegt mich in seinen Armen und singt leise vor sich hin. Ich spüre seinen ruhigen, kalten Atem im Nacken und schmiege mich fester an ihn. Schlafen möchte ich, doch Kälte und Angst halten mich wach. Die anderen erzählen sich Witze. Endlich, mit den ersten Sonnenstrahlen, kommen sie mit dem Hund und „Dovi“, dem D-9 Bulldozer, um den Rest zu erledigen. Wir kriechen steif und durchgefroren aus unserem Unterschlupf hervor. Die zwei toten Terroristen, die während der Nacht im Garten neben uns lagen, werden auf einer Bahre festgeschnallt und in den Ambulanzwagen geschoben.

Sie durchforschen mit dem Hund das Haus, um sicher zu sein, dass es leer ist, und kommen mit einem Mann heraus. Gleichzeitig beginnt „Dovi“ seine Arbeit. Dad geht zu ihnen hinüber und durchsucht den Mann nach einem Sprengsatz. In diesem Moment stürzt ein Teil der Hauswand über ihm ein. Ich laufe schreiend zu meinem Dad. Im aufwirbelnden Staub verschwindet alles. Niemand ist mehr da, um ihn zu retten. Ich huste und weine und laufe und laufe. Die Staubwolke formt sich zu einem furchterregenden Engel und bewegt sich immer weiter weg. Ich kann meinen Dad nicht mehr erreichen.


London, 2. Februar 2009, 9.30 Uhr
Wer jünger als achtzehn Jahre sei, habe noch nie einen derartigen Schneefall erlebt, meinte der Radiosprecher. – In einem Land, das Winterreifen nicht kennt, dessen bescheidenes Potenzial an Räumungsfahrzeugen seitJahren nicht genutzt wurde und dessen geringe Menge an Streusalz nach dem ersten Einsatz erschöpft war, brachte dieser unerwartete Schneesturm am ersten Montag im Februar das gesamte öffentliche Leben zum Stillstand. Die instabile Wettersituation bewirkte, was nicht einmal die deutsche Luftwaffe zustande gebracht hatte; seit Menschengedenken wurde zum ersten Mal das gesamte Londoner Bussystem außer Kraft gesetzt.

Nachdem das Schließen der Schule durcheine frühmorgendliche SMS bestätigt worden war, streifte Sharona hastig Skihose und Anorak über den Pyjama und entschlüpfte unbemerkt in den Garten. Aufgeregt tauchte das Kind beide Hände in den Schnee, formte eine Kugel und rollte diese von einer Hecke zur anderen, hin und her, her und hin. Das zunehmende Gewicht zog eine tiefe Schneise durch den Pulverschnee, sodass der braun-schmutzige Rasen zum Vorschein kam. Sharona schob eine zweite, immer größer werdende Kugel quer durch den Garten und rollte die Bauchschneekugel ganz dicht neben die Fußschneekugel. Sie umfasste diese mit beiden Armen, holte tief Luft und versuchte mit aller Kraft, die unförmige Schneemasse hochzuheben. Sie warf einen Hilfe suchenden Blick zurück zum Haus, doch ihre Mum hatte bereits in den ersten Sekunden nach dem Aufstehen wenig Begeisterung für die weiße Pracht gezeigt („Dieser Arschschnee versaut mir nochden ganzen Tag“), und von Tante Lisa wusste sie, dass ihre Gelenke schmerzten und sie Kälte nicht ertragen konnte.

Sharona kniete neben den Schneemanntorso und klatschte die Handschuhe mehrmals zusammen, um Eisklümpchen aus der Wolle herauszuklopfen. Von der linken Nachbarseite dröhnte ausgelassenes Lachen. Sharona richtete sich auf, stapfte hoffnungsvoll zum Gartenzaun und spähte hinüber. Nigel, der von allen außer Sharona Hedgehog genannt wurde, war mit seinen Brüdern und eigenem Schneevergnügen beschäftigt, sie fabrizierten einen Iglu.

Lennon, ihr Freund von der anderen Gartenseite, schien noch zu schlafen. Nigel behauptete, Lennon habe sich als Baby einen Plastiksack über den Kopf gestülpt und könne deswegen nicht richtig reden und spielen und überhaupt nichts richtig machen. Dennoch liebte Sharona nichts mehr, als auf der Schaukel stehend und über den Gartenzaun hinweg ihre Geschichten zu erzählen, während Lennon, der geduldige Zuhörer, auf seiner Schaukel saß.

Nigel um Hilfe zu bitten schien aussichtslos, so beschloss Sharona, lieber auf das Auftauchen von Lennon zu hoffen. In der Zwischenzeit rollte sie, um den Schneemannkopf zu formen, die dritte und kleinsteKugel durch den Schnee,im Slalom zwischen den Skulpturen ihrer Grandma hindurch.

„Sharona, Sharona, komm sofort ins Haus zurück, es schneit ja noch immer, du wirst dich erkälten und tagelang im Bett liegen, duträgst weder Mütze noch Schal, und wie ich annehmen darf, auch keine Socken, hör auf zu hüpfen und dich wie ein Eichhörnchen zu benehmen, was machst du überhaupt?“

Amy rief nach ihrer Tochter. Die stakkatoartige Diktion war ein untrügliches Zeichen von Ungeduld. Sie stand in ihrem blau karierten Herrenpyjama am offenen Schlafzimmerfenster, skandierte nochmals vergeblich ein weißrauchiges „Sharona“ in die kalte Morgenluft und schloss das Fenster, da keine Reaktion zu erwarten war, abrupt.

Sharona, die gerade den großen Tannenbaum in der linken hinteren Gartenecke umrundete, bekam nicht wirklich mit, was die Mutter von ihr wollte.

Zu Beginn ihrer Existenz war Sharona eine exakte Miniaturausgabe ihrer Mum gewesen, wie die kleinen Tonmodelle, die ihre Grandma anfertigte, bevor sie sich an die großen Skulpturen heranmachte. Dochwährend der letzten neun Jahre hatte sie sichzu einem eigenständigen Wesen entwickelt, unabhängig vom Aussehen ihrer Mutter. Haare und Augen wurden dunkler, der Körper kräftiger, der Blick fragender. Einzelne Strähnen des kinnlangen und wirren Haares hingen in das noch kindliche Gesicht, Haarreifen und Spangen gingen ständig verloren.Quer über die Nase, die im Vergleich zu Amys nichts Klassisches an sich hatte, liefen ein paar Sommersprossen. Nur der breite Mund blieb beiden gemeinsam.

Von ihrem Dad hatte sie absolut nichts. Manchmal, wenn Sharona sich in der Bibliothek, ihrem Lieblingsraum in diesem Haus, verkroch, um die Fotoalben aus Israel anzuschauen (diese Alben zeichneten sich dadurch aus, dass die meisten Bilder in der Mitte durchgeschnitten oder ganze Seiten herausgerissen waren), suchte sie im Gesicht ihres Vaters nach Gemeinsamkeiten, etwas Vertrautem. Ein Blick, ein Lächeln, irgendein Hinweis, dass sie doch ein Teil von ihm sein könnte.

Auf den wenigen Fotos, die ihre Mutter nicht vernichtet hatte, sah man einen selbstsicheren, groß gewachsenen jungen Mann, der glücklich in die Kamera lächelte (mal mitRastalocken, dann wieder mit kurzem Haar), aber keinerlei Ähnlichkeit mit Sharona zeigte. Jeden Abend während der obligatorischen fünf Minuten, die das Zähneputzen in Anspruch nahm, beobachtete Sharona aufmerksam ihr Gesicht im Spiegel, um ihren Vater darin zu finden. Das Einzige, was sie an ihn erinnerte, war das dichte Haar.

Sharonas Dad war vom Militär nicht mehr zurückgekehrt. Früher hatte sie gedacht, es sei normal, dass alle Väter irgendwann einmal aus dem Reservedienst nicht mehr nach Hause kämen. Doch Liors Dad war zurückgekommen, auch Orlis Vater, Rinas Dad war wieder da, nur Joavs Daddy hatte, nachdem er einberufen worden war, drei Wochen im Krankenhaus verbracht, aber auch von dort war er zurückgekehrt. Einmal, als Sharona von Rina wissen wollte, wann es so weit sein würde, dass ihr Dad aus dem Militär nicht mehr zurückkomme, antwortete deren Mutter, dass fast alle Daddys wiederkommen würden, dass das „andere“ nur selten der Fall sei. In diesem Augenblick hatte Sharona erstmals jenen ohnmächtigen Schmerz verspürt, den der Verlust ihres Dads ihr immer wieder bereiten sollte. Wieso konnte er nicht wie alle anderen Väter einfach zurückkommen? Sie in der Früh in den Kindergarten bringen und ihr einen Kuss geben?

Jeden Wochenbeginn mussten die Kinder Morah Michal erzählen, was sie am Schabbat gemacht hatten und davon eine Zeichnung anfertigen. Die meisten gingen an den Strand, besuchten Oma und Opa, Jossi verbrachte den Tag in „Mini-Israel“ und zeichnete das gesamte Land in sein grünes Heft. Überall war ein Dad dabei. Nur Sharona spielte im Hof und lief der Katze hinterher, während ihre Mum regungslos auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und auf den Vorhang vor der offenen Balkontür starrte. In jener Zeit beschloss Sharona, nicht mehr in den Kindergarten zu gehen, während ihre Mutter beschloss, nach England zurückzukehren. ■

MEIXNER: Zur Person

Geboren 1968 in Dornbirn. Studierte Judaistik und Theaterwissenschaften in Wien. Lebt in London und Wien.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Jüdischen Museum Wien.

Ihr Text stammt aus ihrem Romandebüt „ohnegrund“, das kommende Woche im Picus Verlag erscheint.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2012)

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