Die Kürze als Würze

Der Ruf der Mikroblogging-Plattform Twitter ist zweifelhaft, wenigstens unter Sprachpuristen. Dabei besteht hier durchaus Potenzial für die Genese einer neuen Textsorte. Die „Twitteratur“ nimmt als das 140-Zeichen-Genre Gestalt an.

Anfang dieses Jahres identifizierte Hans Zehetmair, der Vorsitzende des deutschen Rechtschreibrates, die Mikroblogging-Plattform Twitter als Grundübel einer verrohenden deutschen Zunge. Besonders originell ist derlei Angstgezeter ja nicht. Denn die sinnvollere Option einer Auseinandersetzung mit sprachimmanenten Phänomenen wie ebendiesem besteht in einer konstruktiven Bestandsaufnahme seines Potenzials, auch für die schöne Literatur.

So knapp wie möglich erklärt, ist Twitter ein Internetdienst, vermittels dessen maximal 140 Zeichen lange Textnachrichten verschickt werden – zu lesen bekommen diese „Tweets“ alle Nutzer, die das Konto eines twitternden Zeitgenossen abonniert haben (das geschieht per Knopfdruck und ist nicht mit Kosten verbunden). Mehr als 380 Millionen Konten sind derzeit registriert, und unweigerlich finden sich auch Schriftsteller unter diesen „Twitterati“. Im angelsächsischen Raum sind es viele, unter den deutschsprachigen Autoren ist die Zahl bescheidener, doch twittern etwa Sibylle Berg und, immerhin bisher gezählte drei Male, Thomas Glavinic. Das für Christian Kracht registrierte Konto liegt brach, dabei wäre es hier unlängst wild zugegangen. Sie und andere nutzen die Plattform jedoch, um sich mit ihrer Umwelt auszutauschen und nicht, um hier eigene Texte entstehen zu lassen. Denkbar ist dies aber durchaus.

In der Tat stellt Twitter mit seiner markanten Vorgabe den Nährboden für das Entstehen einer neuen Textsorte bereit. Unterwirft sich doch, um eine etwas kühne Vergleichsebene aufzuziehen, auch die gesamte Lyrik formalen Zwängen, und das bereitwillig. Zudem könnten Beobachtern des twitternden Treibens die Spielereien der Wiener Gruppe in den Sinn kommen (herrlich die Vorstellung eines twitternden Jandl!). Darüber hinaus könnte man an Vertreter des Oulipo, Ouvroir de littérature potentielle, wie Calvino, Perec oder Queneau denken, oder auch an die am Reißbrett ihre Bücher entwerfenden „Nouveaux romanciers“ Butor, Robbe-Grillet oder Simon.

Es tut sich also etwas auf Twitter, das auch die Literatur betrifft, und das ist gut so. Einige Experimente schaffen sogar den Medientransfer und erscheinen in Buchform. Zum Beispiel die von Florian Meimberg erzählten „Tiny Tales“, die gesammelt als „Auf die Länge kommt es an“ vorliegen. Bisweilen gelingt es ihm, in den zur Verfügung stehenden 140 Zeichen einen eindrücklichen Spannungsbogen aufzuziehen. Weltuntergang, Vatermord und Inzest sind die düsteren Motive, derer sich der Autor mit Vorliebe annimmt. Auch das Schreiben selbst mag beschrieben werden: „The End. Sein Roman über die WTC-Anschläge war fertig. Er klappte den Laptop zu, sah auf die Uhr. Fast Mitternacht. Es war der 10. 9. 2001.“ Kürzestgeschichten wie diese ließen sich schon einmal auf Romanlänge strecken, das Twitter-Format reduziert jedoch die Ursprungsidee auf ihr Wesentliches. In den gelungeneren Fällen wird der Leser aus seinem Rezeptionsstupor aufgerüttelt und zum Wei- terimaginieren verführt.

Reduktion in extremis ist auch das Anliegen eines vollmundig mit „Twitteratur“ überschriebenen Buches, das die amerikanischen Philologiestudenten Alexander Aciman und Emmett Rensin vorlegten: Sie nahmen sich bedeutender Werke der Weltliteratur an, von Homers „Odyssee“ über Miltons „Verlorenem Paradies“ bis hin zu Salingers „Fänger im Roggen“. In Sequenzen von nie mehr als 20 Tweets (zumeist als Monolog der Hauptfigur) wird die Essenz der Handlung wiedergegeben, wobei die Ambition der Verfasser über das bloße Resümieren, etwa im Sinne eines Mikro-Kindler-Lexikons, hinausgeht. So kommen in der phasenweise nicht unamüsanten Arbeit von Aciman und Rensin in durchaus erträglichem Ausmaß chattypische Akronyme zum Einsatz – ein Glossar ist dankenswerterweise vorhanden. Vertrautheit mit den Twitteratur-Vorlagen ist ebenfalls vonnöten, um die Kunst der Verknappung schätzen zu können. „Wenn ihr aber die nächsten hundert Jahre über meine psychologischen und ideologischen Motive nachgrübeln wollt – gerne!“, twittert zum Beispiel Raskolnikov, mit dem Pseudonym @Laus versehen. Wer „Verbrechen und Strafe“ gelesen oder gar je darüber geforscht hat, weiß, was gemeint ist. Auch welche andere Heldin der russischen Literatur als ihren letzten Tweet den folgenden in die Weiten des virtuellen Raumes schießt, ist nicht schwer zu erraten: „Also gut: Zwanzig Rubel, dass ich meine Handtasche in die Luft werfe, über die Gleise renne und sie wieder auffange, bevor der Zug ...“

Eine weitere Variante des Buch gewordenen Twitter-Kontos liegt bei dem britischen Verlag Hodder & Stoughton vor, der mit einem anonym bleibenden Twitter-Nutzer kooperierte. Auf @QueenUK twittert nämlich die fiktive Monarchin „Elizabeth Windsor“ und kommentiert das tagesaktuelle Geschehen im Vereinigten Königreich. Das Ganze liest sich so heiter, dass sich derzeit über 607.000 Abonnenten ihre Kurzmeldungen zuschicken lassen. Für die Publikation wurde wiederum eine Strategie gewählt, die jeweils einen abgedruckten Tweet als Aufmacher eines kurzen, durchgeschriebenen Kapitels auswählt. Summa summarum ergibt sich daraus ein „königliches Tagebuch“. Die Identität des Verfassers wird nicht enthüllt, @QueenUK ist das wahrscheinlich erste Twitter-Alias, das es in die Autorensparte von Bibliothekskatalogen geschafft hat.

Nun erscheint das Buch – das diamantene Kronjubiläum von Elisabeth II. dürfte einen geeigneten Anlass darstellen – auch auf Deutsch. In der Ausstattung des von Fischer verlegten Titels wird auf die Umstände der Genese aber nicht eingegangen, das zugrunde liegende Twitter-Konto mit keinem Wort erwähnt. Das bedingt zugleich eine grobe Unachtsamkeit gegenüber dem Original in der von Maja Ueberle-Pfaff bedingten Übersetzung: Die Bonmots am Anfang jedes Kapitels, ihrem Ursprung nach Tweets, durchbrechen nicht selten die 140-Zeichen-Schallmauer. Jenes Charakteristikum, das erst die Veröffentlichung der Vorlage bedingte, wurde also getilgt. Diese Tatsache ist umso verwunderlicher, als Fischer auch Meimbergs „Tiny Tales“ verlegte. Vielleicht wollte sich der deutsche Verlag auch einfach nicht die zweifelhafte Fama eines Twitteratur-Pioniers einbrocken. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2012)

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