Zu Lande und zu Wasser

Ob im Müll- oder Atombusiness, im Drogenhandel, Waffenhandel oder beim Menschenschmuggel: Überall machen die ehrenwerten Herren lukrative Geschäfte. Die Mafia: Literatur zur neuesten Entwicklung eines effektiven Geschäftsmodells.

Einer Legende zufolge fliehen um das Jahr 1412 drei spanische Ritter, die in Ehrenhändel verstrickt sind, über das Meer nach Sizilien. Dort gründen sie einen Geheimbund, der auf drei Prinzipien fußt: Alle Taten haben der Verteidigung des christlichen Glaubens in der Nachfolge der Heiligen Jungfrau von Cordoba zu dienen; des Weiteren werden wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erfolg um jeden Preis als Erfüllung der christlichen Aufgabe identifiziert, und drittens werden zur Verwirklichung der Ziele auch Betrügereien und Verbrechen erlaubt, sofern sie sich nicht gegen Mitglieder des eigenen Bundes richten. Bald machen die drei sich auf, ihr Projekt zu diversifizieren. Osso bleibt in Sizilien und gründet die Cosa Nostra, Mastrosso überquert die Straße von Messina und ruft die 'Ndrangheta ins Leben, während Caragnosso das Königreich Neapel erreicht und dort die Camorra aus der Taufe hebt.

Es gibt realistischere Gründungsmythen des organisierten Verbrechens in Italien – die Abwesenheit staatlicher Strukturen im beginnenden 19. Jahrhundert, die Massenarmut der Landbevölkerung, schließlich die Tradition der Clan- und Stammesfehden mit ihren archaischen Codes und Ritualen, die zum Teil auf die Zeit der Auseinandersetzung mit den Mauren zurückgehen. Erstaunlich ist, dass es die verschiedenen Zweige der Mafia verstanden, altertümliche Umgangsformen mit hocheffizienten Geschäftsmethoden auf der Höhe der Zeit zu verbinden.

Roberto Saviano, der bekannte neapolitanische Publizist, hat mit seinem 2007 erschienenen Tatsachenroman „Gomorrha“ die journalistische Vorreiterrolle innerhalb der „Antimafia“ übernommen. Er lebt unter ständiger Gefahr an wechselnden Orten, permanent beschützt von Carabinieri. Der staatliche Fernsehsender Rai Tre ermöglichte Saviano, nun mit einer Fernsehserie den Zusammenhängen von organisiertem Verbrechen und staatlichem Handeln nachzugehen. Dass die im Herbst 2010 gestartete Serie „Vieni via con me/Komm mit mir“, eine Mischung aus Reportage und öffentlichem Forum, nicht mehr beim dritten staatlichen Sender, sondern bei einem kleinen privaten läuft, hat eine paradoxe Ursache. Obwohl man Savianos Serie gegen Spiele der Champions League und populäre Filme programmierte, erreichte sie sensationelle Zuschauerzahlen. Zehntausende wandten sich mit Informationen und Vorschlägen an die Sendungsmacher. Das Ausmaß des Erfolgs kam den staatlichen Medienfürsten ungelegen. Geplant war eine Nischenproduktion, eine Art Auslaufzone für kritische Geister, stattdessen sah sich Rai Tre mit einem Ausbruch gesellschaftlicher Wirklichkeit konfrontiert. Dass die Gruppe um Saviano durch den immensen Zuspruch in ihrer Recherchearbeit zusätzlich befeuert wurde, veranlasste Rai Tre, die erfolgreiche Sendung abzuschieben.

In einer Sammlung von Reportagen bereitete Saviano die Schwerpunkte der Sendungen auf und legt sie nun in Buchform vor. Besonders aufschlussreich gerieten jene Kapitel, die das Vordringen der süditalienischen 'Ndrangheta in den Norden Italiens, in die ökonomisch fortgeschrittenen Agglomerationen um Mailand und Turin, beschreiben. Des Weiteren findet sich in dem Band eine beeindruckende Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der berühmtesten Staatsanwälte der „Antimafia“, Paolo Borsellino und Giovanni Falcone, die im Mai und Juli 1992 in die Luft gesprengt wurden. Der Autor zeigt, dass die beiden keineswegs vorbehaltlos von den Justizbehörden unterstützt wurden. Das Gegenteil war der Fall. Beide mussten immer wieder hartnäckige Blockaden im Justizapparat überwinden, um ihre Ermittlungsarbeit, die einige hundert Mafiosi hinter Gitter brachte, fortführen zu können.

Die Fronten zwischen den Beiträgern und verdeckten Unterstützern der verschiedenen Mafien und deren Gegnern von der Antimafia verlaufen quer durch die Staatsapparate. Vor allem im Justiz- und Sicherheitsapparat sowie in der Kommunalpolitik gelingt es der Mafia, nahestehende Beamte zu platzieren. Besonders die vor Kurzem abgetretene Regierungskoalition von Berlusconi und Bossi, deren Parteien Popolo della Libertà (PDL) und Lega Nord in manchen Regionen weiterhin dominieren, hat ein politökonomisches Biotop geschaffen, in dem vor allem die Geschäfte der kalabrischen 'Ndrangheta, die mittlerweile als die größte der drei Mafien gilt und mit 7000 Mitarbeitern in rund 100 Clans 44 Milliarden Umsatz macht, besonders gut gedeihen.

Mit dem Vordringen der kalabresischen Mafia in den Norden beschäftigt sich auch der Band „Metastasen“ der italienischen Journalisten Gianluigi Nuzzi und Claudio Antonelli. Sie lassen einen Kronzeugen der Mafia, der derzeit im Zeugenschutzprogramm lebt, zu Wort kommen. Giuseppe di Bella ist einer der wenigen Mafia-Führer, die mit ihrem Clan gebrochen haben und die Geschäfte einer militärisch strukturierten kriminellen Organisation enthüllen. Er liefert nicht nur Hinweise darauf, dass es beim Mord an dem Modeschöpfer Gianni Versace eine Verbindung zur Mafia gegeben hat, er liefert auch Indizien dafür, dass ein Gutteil des Rauschgifts, das in Österreich konsumiert wird, von der 'Ndrangheta geliefert wird, die sich zur Distribution albanischer Clans bedient.

Dass Österreich ein Hafen für Geldwäscher sein dürfte, kann auch aus der Geschichte des PDL-Abgeordneten Nicola di Girolamo geschlossen werden, der 2008 mit den Stimmen der Auslandsitaliener ins römische Parlament gewählt wurde und von dem später bekannt wurde, dass Abgesandte der 'Ndrangheta vor den Wahlen mit Koffern voller Geld durch die Lande reisten und ihren Landsleuten die Stimmzettel abkauften. Der Stimmenkauf verläuft simpel: Die Wähler werden mit ausgefüllten Stimmzetteln ausgestattet, werfen diese in die Urne, stecken die Originalwahlzettel ein und kassieren dafür später 50 oder 100 Euro. Di Girolamo stand auch im Zentrum einer Gruppe von italienischen Geschäftsleuten und Abgeordneten, die seit 2003 regelmäßig nach Wien fuhren, um bei führenden österreichischen Instituten Bankgeschäfte in Milliardenhöhe zu tätigen.

Auch das Buch des in Deutschland lebenden Journalisten Francesco Sbano handelt von einem Mafiaboss, der mit seinem alten Leben bricht und auspackt. Die Stärke dieses Bandes ist die detailreiche Schilderung der Aufnahmerituale und Familienpraktiken der Mafiosi, der Autor führt eine verkehrte Welt vor, in der Mord und Verbrechen zumindest einige Jahre lang mit Ehre, Macht und Geld belohnt werden.

Mit einem florierenden Zweig des organisierten Verbrechens befasst sich die von Sandro Mattioli und Andrea Palladino verfasste Studie „Müllmafia“, in dem sie die spannende und tragische Geschichte des Staatsanwalts Natale di Grazia nachzeichnen. Er fand heraus, dass in der Zeit von 1985 bis 1992 allein in Genua 131 Schiffe mit radioaktiver Ladung an- oder abgelegt hatten; er wusste auch, woher die Schiffe stammten und wo sie beladen wurden. Und er wusste, wo sie versenkt wurden. Di Grazia kannte die Routen, zu Wasser wie zu Lande. Und er kannte die Hintermänner. Bei den vor Italien versenkten Schiffen war immer dasselbe Muster anzutreffen. Die Zielhäfen im Süden Italiens waren kaum überwacht oder standen, wie der Hafen von Goia Tauro, im Einfluss von Mafia-Clans. Nie starb beim Untergang eines der Schiffe ein Besatzungsmitglied, stets war ein Boot zur Stelle, das die Überlebenden aufnahm und nicht etwa an die nahe Heimatküste brachte, sondern weit entfernt, in Griechenland oder Tunesien, absetzte.

Diese Vorgangsweise findet ihre Begründung darin, dass die Ermittlungen zuerst in jenem Land erfolgen, das die Crew aufnimmt. Bezeichnenderweise sandten die Schiffe kein SOS-Signal, was laut internationalem Seerecht zu geschehen hat, wenn die Besatzung eines Havaristen das Schiff verlässt. Auf diese Weise tappten die Hafenämter der Anrainerhäfen über den Ort des Untergangs im Dunkeln. Da die Bergekosten von Schiffen, die in tiefen Gewässern liegen, horrend sind, tauchen die Geheimnisse der falsch deklarierten Frachter erst auf, wenn Küstenanrainer an Haut- und Lungenkrankheiten erkranken und die Strände verseucht sind. Wo es gelingt, basierend auf den Wahrnehmungen einzelner Unerschrockener, bescheidene epidemiologische Studien anzustellen, lassen die Ergebnisse angesichts von vielfach erhöhten Krebsraten Ärzte und Umweltaktivisten erschauern.

Aber auch hier folgen die Abläufe vorprogrammierten Bahnen; nach Phasen verbaler Betriebsamkeit versanden die Sanierungsversuche der illegalen Deponien und versenkten Schiffe. Ermittelnde Fachleute von Polizei, Justiz und Medizin werden, sobald deren Wissen gefährlich wird, versetzt wie Dottoressa Motta in Udine, für verrückt erklärt wie Oberst Cerceo in Triest, und wenn das nicht klappt, sterben wie der Jurist Dottore Sapio bei einem Sturz aus dem Fenster oder der Staatsanwalt Natale di Grazia, der in einer Autobahnraststätte vergiftet wird.

Der Arm der Müllmafia reicht weit über Italien und Europa hinaus. Illaria Alpi und ihr Gefährte Miran Hrovatin stießen in Somalia auf ein milliardenschweres illegales Müllbusiness, in dem sich Waffenhändler, griechische und deutsche Reeder, Geheimdienstler, Warlords und lokale Politiker tummeln. Mehrere hunderttausend Tonnen Nuklearabfälle, die mit Sand vermischt wurden, Krankenhausabfälle samt strahlenden Kobaltrückständen, Schwermetalle und chemische Cocktails wurden vor der somalischen Küste versenkt. Als Gegenleistung gab es deutsche Lastkraftwagen, Waffen aller Gattungen und Bargeld. Noch bevor die beiden Ermittler ihre Erkenntnisse publizieren konnten, wurden sie erschossen.

Ob Menschenschmuggel, Drogenhandel, Bau-, Immobilien- und Müllbusiness, überall machen die „ehrenwerten Herren“ ihren Schnitt, längst geben sie sich den staatspolitischen Rahmen durch die Unterstützung nahestehender Parteien selbst. Dass es immer wieder Phasen gibt, in denen an der Oberfläche relative Ruhe herrscht und nicht ständig von Vendetta, Auftragsmord oder in die Luft gesprengten Staatsanwälten die Rede ist, bedeutet mitnichten, dass die Mafia unter Kontrolle ist. Die Ruhe ist nur ein Beleg dafür, dass die Geschäfte wie geschmiert laufen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2012)

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