Freunde jenseits des Grabs

Arthur Schnitzler und die Nachwelt: Er wäre beruhigt, wüsste er, dass dem Gedenken an seinen 150.Geburtstag Verlage und Buchhandel Tribut zollen. Die Neuerscheinungen im Überblick.

Seinen 50.Geburtstag brachte Arthur Schnitzler in Venedig zu, den 60. in Nürnberg. Beide Male waren das Fluchten vor dem Gefeiertwerden, oftmals reiste er am 15.Mai auch einfach auf den Semmering. So paradox es klingt, dieser Autor, der immer wieder im Mittelpunkt riesiger Kontroversen stand („Lieutenant Gustl“ kostete ihn den Offiziersrang, „Professor Bernhardi“ wurde sechs Jahre lang von der Zensur verhindert, der Kampf um den „Reigen“ wurde bis ins Parlament getragen, von der stets stichelnden, zuweilen brutalen antisemitischen Polemik nicht zu reden), dieser Schriftsteller im Fokus der Öffentlichkeit scheute in Wahrheit die Öffentlichkeit.

In Nürnberg liest er am Morgen seines Geburtstags die Wiener Zeitungen (1922 bekam man in Nürnberg Wiener Zeitungen!) und notiert bei der Lektüre der zahlreichen Artikel, die über ihn geschrieben wurden: „Lauter Unwahrheiten beinah.“ Den 70. Geburtstag hat er nicht mehr erlebt. Nun „begeht“ die Nachwelt seinen 150.Geburtstag, eine Nachwelt, die ihn immer wieder stark beschäftigt hat: „Als müsst ich zu Freunden reden, die noch nicht geboren sind.“ Eines steht fest: Dieser Autor hat uns noch immer viel zu sagen. Verlage und Buchhandel zollen dem Jubiläum Tribut.

Es gibt auch 80 Jahre nach dem Tod noch Schnitzler-Neuerscheinungen, vieles an unveröffentlichtem Material findet sich noch in seinem Nachlass. (Noch einmal sei dem englischen Studenten Eric A. Blackall gedankt, der durch sein beherztes Eingreifen im März 1938 verhinderte, dass die Gestapo diesen Nachlass kassierte!) An der Universität Wien entsteht seit zwei Jahren eine historisch-kritische Ausgabe des Schnitzler'schen Frühwerks, die nach „Lieutenant Gustl“ im Vorjahr nun den Einakterzyklus „Anatol“ vorlegt, auf 1214 Seiten in zwei Teilbänden. Herausgeberinnen sind Evelyne Polt-Heinzl und Isabella Schwentner. Faksimiles der Handschriften in Originalgröße erlauben es, alle textgenetischen Schritte im Detail nachzuverfolgen. Der Berichterstatter gestattet sich kein wertendes Wort, da er an dem großen Editionsprojekt beteiligt ist.

Dasselbe gilt für die zweite Publikation aus dem Nachlass, nämlich die „Träume“, also das Traumtagebuch. Damit werden erstmals sämtliche Traumexzerpte, die Schnitzler aus seinem Tagebuch angefertigt hat, präsentiert – ergänzt um jene Träume, zu deren Diktat es durch sein Ableben nicht mehr gekommen ist, sowie versehen mit einem umfangreichen Kommentar und einem Nachwort. Es handelt sich um eine Art Komplementär- und Konfrontationstext zu Freuds „Traumdeutung“.

Ebenso wie die historisch-kritische Ausgabe unter Leitung der Wiener Germanistin Konstanze Fliedl wird auch ein mehrjähriges Schnitzler-Projekt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt: „Manu Scripta – Editionen aus der Handschriftensammlung der Wien-Bibliothek“, dessen zweiter Band unter dem Titel „A. ist manchmal wie ein kleines Kind“ nun vorliegt. Die Literaturwissenschaftler Michael Rohrwasser, Stephan Kurz haben in detektivischer Kleinarbeit die über 500 Kinobesuche Schnitzlers und seiner Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek zwischen 1923 und 1931 recherchiert. Dass sich Schnitzler schon sehr früh für dieses Medium interessiert gezeigt hat, war bekannt. Er hat selbst Drehbuchskizzen verfasst, hat über die Möglichkeit, eine Geschichte rein visuell und ohne Dialoge zu erzählen, nachgedacht, war ein leidenschaftlicher Kinogeher, vermutlich deshalb, weil ihn beim Besuch der Stummfilme seine zunehmende Schwerhörigkeit am wenigsten behinderte.

Auch der ökonomische Aspekt des Kinos war nicht zu verachten, schließlich wurde eine ganze Reihe seiner Arbeiten auf die Leinwand gebracht und sicherte ihm auch in Zeiten der Inflation sein Einkommen. Nun kann man erstmals im Detail nachlesen, welche Filme er gesehen hat, in welchen Wiener (oder auswärtigen) Kinos er sie besucht hat, und in vielen Fällen auch, wie diese Filme in der Tagespresse kritisiert wurden. Außerdem ist zum ersten Mal das umfangreiche, in der Wien-Bibliothek verwahrte Typoskript „Arthur Schnitzler und ich“ der Freundin Clara Pollaczek (1875–1951), die auch schriftstellerisch tätig war, herangezogen worden, sodass Schnitzlers Tagebucheinträge zu den Filmen auf reizvolle Weise ergänzt und kontrastiert werden können. Zahlreiche der Filmtitel erschließen sich bloß auf dem Wege des Aufführungsdatums und -orts. Die Herausgeber haben hier tatsächlich eine Mammutarbeit absolviert und neben dem Buch auch noch eine umfangreiche Datenbank hergestellt, abrufbar unter der Website: www.univie.ac.at/clara-katharina-pollaczek). Was aus Pollaczeks Tagebucheinträgen entsteht, ist das bedrückende Protokoll einer zunehmend quälenden Beziehung („nicht ein Atom von Herzlichkeit“, notiert sie verbittert). Der lebenslange homme à femmes Schnitzler war offenbar in einer Strindberg-Hölle gefangen.

Eine literaturwissenschaftliche Studie mit dem Titel „Arthur Schnitzler. Zeitgenossenschaft der Zwischenwelt“ stammt von dem Münchner Germanisten Joachim Heimerl. Mit „Zwischenwelt“ meint der Autor die „Oszillation von syn- und diachronen Elementen“, eine scheinbare Hinwendung Schnitzlers zur Vergangenheit mithilfe eines historisierenden Ambientes, die – wie Heimerl nachzuweisen bemüht ist – in Wahrheit immer die Probleme der Gegenwart im Auge behält. Exemplifiziert an neun Werken aus den letzten 15 Lebensjahren des Autors zeigt Heimerl, wie dieser vermeintlich unpolitische Schriftsteller seismografisch alle Umwälzungen seiner Epoche, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, aufgenommen und verarbeitet hat. Er nennt hier neben den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen vor allem das neue weibliche Selbstbewusstsein, das zahlreiche Figuren im Spätwerk charakterisiert. Eine genaue Lektüre mit parallelem Blick auf das Zeitgeschehen verhilft zu erhellenden Einsichten: In der wenig bekannten Novelle „Die Frau des Richters“, die im Württemberg des 18. Jahrhunderts angesiedelt ist, wird ein Aufrührer, Tobias Klenk, obwohl er einen Mordanschlag gegen den Herrscher geplant hat, von diesem begnadigt und lediglich des Landes verwiesen. Geschrieben ist das 1917 im Schatten des Strafprozesses gegen Friedrich Adler, der als Pazifist den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh ermordet hat und dessen Todesurteil von Kaiser Karl in Kerkerhaft abgemildert worden ist (1918 wurde Adler vom Kaiser amnestiert).

Ein weiteres einleuchtendes Beispiel für eine derartige „Epochenverschleppung“ ist die Figur des Dorsday in „Fräulein Else“, die Heimerl von Camillo Castiglioni inspiriert sieht, dem allgegenwärtigen Kriegsgewinnler und Börsenspekulanten der Wiener Zwanzigerjahre, der Max Reinhardt die Renovierung des Theaters in der Josefstadt finanziert hat. Die Tatsache, dass Schnitzler die Sprachkrise zum Thema macht (Heimerl zitiert die Texte „Ich“, „Der letzte Brief eines Literaten“ und „Der Sekundant“), weist ihn als einen genuin modernen Dichter aus.

Eine weitere wichtige These Heimerls lautet, dass Schnitzler ein Grundvertrauen in die Demokratie besessen habe. Das letzte vollendete Drama, „Im Spiel der Sommerlüfte“, stellt das Frauenbild der katholischen Kirche infrage. Heimerl erörtert das, was er filmisches Schreiben nennt (etwa „Einstellungen“ anstelle von Kapiteln im Roman „Therese“). Briefzitate belegen schließlich, dass sich Schnitzler immer vehement gegen das Klischee vom Dichter der abgetanen Zeit verwahrt hat. Eine Arbeit, die das vorherrschende Bild vom Fin-de-siècle-Dichter zurechtrückt, ist deshalb lebhaft zu begrüßen, wenngleich sie noch ein wenig eleganter geschrieben und ein wenig sorgfältiger lektoriert sein könnte. Schnitzler hatte begründete Reserven gegenüber allen Interpreten der germanistischen Zunft; über dieses Geburtstagspräsent hätte er sich vermutlich gefreut.

Noch einmal muss von der enormen Antriebskraft gesprochen werden, die für Arthur Schnitzler der Gedanke an sein Nachleben bedeutet hat: „Als könnt es mich von der quälenden innern Einsamkeit befreien, wenn ich – jenseits meines Grabs Freunde wüsste.“ Nicht zuletzt die 8000 Seiten seines Tagebuchs, die im Banksafe verwahrt wurden, bezeugen das. Jubiläen bergen stets die Gefahr, sentimental zu werden. Aber auch dazu hat dieser Autor einen Satz parat. In seinem nach wie vor nicht gebührend gewürdigten Roman „Der Weg ins Freie“ lässt er eine seiner Figuren sagen: „Sentimentalität ist Gefühl, das man sozusagen unter dem Einkaufspreis erstanden hat.“ ■

SCHNITZLER: Neuerscheinungen

Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Konstanze Fliedl. 578S., geb., €307,40 (De Gruyter Verlag, Berlin).

Arthur Schnitzler: Träume. Das Traumtagebuch 1875–1931. Hrsg. von Peter M. Braunwarth und Leo A. Lensing. 494S., geb., €35,90 (Wallstein Verlag, Göttingen).

Joachim Heimerl: Arthur Schnitzler. Zeitgenossenschaft der Zwischenzeit. 170S., geb., €39,10 (Peter Lang Verlag, Zürich).

„A. ist manchmal wie ein kleines Kind“. Arthur Schnitzler. Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino. Hrsg. von Stephan Kurz und Michael Rohrwasser. 400S., brosch., €39 (Böhlau Verlag, Wien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2012)

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