Guter Sex mit der Mutter

In seinem Roman „Ed King“ lässt David Guterson den nach der Geburt weggegebenen Sohn einer Verwandlungskünstlerin, der von einer jüdischen Familie adoptiert wird, seine Mutter kennen- und lieben lernen.

Auf Seite 297 des neuen Romans sorgt David Guterson selbst für eine harsche Unterbrechung des Erzählflusses. Genau in dem Moment, in dem sein Held Ed King, ein gut aussehender, großer Mann Mitte 20, in einer Ausstellung die klar ältere Diane kennenlernt und ein angeregtes Gespräch mit ihr beginnt – und zwar ausgerechnet über einen ausgestellten Glaskasten voller herabrieselnder Silberdollars, womit das Prinzip der Wahrscheinlichkeitsverteilung veranschaulicht werden soll. Wie groß ist dieChance, dass das passiert, was jetzt passieren wird? Guterson weiß, dass seine Leser hier längst ahnen, worauf seine Geschichte über viele Seiten unweigerlich zugesteuert ist. Er weiß, was sie an dem Punkt über Autor und Fortgang der Handlung zu denken begonnen haben: „Er wird doch nicht etwa gar? Nein, das wird er nicht...“

Doch Guterson ist ein schlauer Fuchs. Statt einfach weiterzuerzählen und dem Leser voraus zu sein, bleibt der US-Romancier plötzlich stehen, dreht sich um und spricht quasi direkt in die Kamera: „Also gut“, sagt seine Erzählstimme, „wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist, dem Teil, in dem eine Mutter Sex mit ihrem Sohn hat. Wer wollte jemandem vorwerfen, dass er sich für diese potenziell heiße Stelle interessiert und es ihn gleichzeitig bei der Vorstellung schaudert?“ Erwischt! Und wie! Nur, wie geht es jetzt weiter? Guterson fährt fort mit Überlegungen, welche Gedanken einem bei so einem massiv tabuisierten Inzest-Szenario durch den Kopf gehen könnten.

Allerdings nur, um schließlich sehr konkret zu werden und zu behaupten: „Was den Sex angeht, so denken die Leute dabei an alles Mögliche, aber wenn es gut läuft und sie im wahrsten Sinn des Wortes ,außer sich sind‘, konzentriert sich ihr Denken allein auf den Genuss und lässt alles andere außen vor.“ Und der Sex zwischen dieser Mutter und diesem Sohn läuft ganz und gar prächtig. So prächtig, dass sie kaum ein Jahr später verheiratet sind und der Sohn, Ed King, mit dem kompetitiven Temperament eines sexuell erfüllten Mannes über Jahre ein zusätzliches Vergnügen darin findet, regelmäßig per Taschenrechner zu ermitteln, wie oft er bereits mit seiner Frau geschlafen hat. Zu Eds 40. Geburtstag nach 14 Jahren Ehe sind es stattliche 3000 Mal.

Man muss nicht sehr tief in die griechische Mythologie vorgedrungen zu sein, um eine Nähe zwischen Gutersons Protagonisten „Ed King“ und König Ödipus zu erkennen. Da stürmt einer durch sein Leben, beispielhaft für uns alle, und weiß ebenso wie wir selbst auch nichts über sein Schicksal, das in seinem Fall den Mord am leiblichen Vater und die Heirat mit der eigenen Mutter vorgesehen hat. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Das Schicksal ist unerbittlich. Es fordert Selbsterkenntnis ein. Ed King – Adoptivsohn jüdischer Eltern, begnadeter Mathematiker und experimentierfreudiger Homme à femmes – will in seiner Maßlosigkeit zu hoch hinaus, will es zu genau wissen und verbrennt dann, fast wie Ikarus, weil er der Sonne zu nah kommt.

Es ist eine haarsträubende und fantastische Geschichte, die Guterson da erzählt. In dem Maß, in dem sie Fahrt aufnimmt, bekommt sie mehr und mehr Elemente eines modernen Märchens. Doch erst einmal erzählt sie von dem 15-jährigen britischen Au-pair-Mädchen Diane, die von ihrem Gastvater geschwängert wird und das Kind nach der Geburt vor jemandes Haustür ablegt. Die Leben von Mutter und Sohn – Diane und Ed – laufen lange parallel nebeneinander. Diane schlägt sich mit Erfindungsreichtum und resignierter Abgeklärtheit durch ein Leben als Escort Girl, dann als Gattin eines reichen, langweiligen Jungunternehmers, stürzt dann tief, fängt wieder von vorne an als Dealerin und Lebensberaterin und begegnet einmal – ohne es zu merken – dem eigenen Sohn, der ihr Mann wird. Ed wiederum wächst in einem intellektuellen jüdischen Milieu auf – nach seiner Adoption, von der er selbst nicht erfährt, bescherte das Schicksal seinen Eltern noch einen zweiten, leiblichen Sohn. Beide Söhne sind Mathematik-Stars, beide werden zu Stars der an der US-Westküste boomenden Internet-Ära: Es sind die 1980er- und 1990er-Jahre. Als Ed Diane trifft, gründet er gerade die riesig erfolgreiche Suchmaschine „Pythia“ – wie Bill Gates wird Ed zum Guru, seine Frau Diane zur bewunderten Förderin riesiger Hilfs- und Förderprojekte. Dass er mit 18 Jahren in einem aggressiven Anfall von Machismo bei einer Art Autoverfolgungsjagd einen Mann, von dem er sich provoziert fühlte, von der Straße abgedrängt und getötet hat, ist nach langen Qualen überwunden. Der (Vater-)Mord ging als Unfall ohne Fremdverschulden in die Polizei-Annalen ein. Ein späterer Erpressungsversuch prallt am inzwischen riesenhaften Ed-King-Mythos ab.

David Guterson, dessen Ruhm fast nur auf das Romandebüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ (1994) basiert, hat mit „Ed King“ ein schwindelerregendes Buch geschrieben. Es ist ein Stück Zeitgeschichte der jüngstenvier, fünf Jahrzehnte der USA und gleichzeitig gespickt mit mythologischen Anspielungen: Wie Ödipus wird auch Ed King eine Art König, nämlich ein König der Suchmaschinen, der Informationstechnologie. Seine Macht scheint unermesslich. Der Suchmaschine gibt der unbewusst stets suchende Adoptivsohn den Namen der Priesterin, die im Tempel von Delphi dem Rat Suchenden weissagte: „Pythia“. Wie Ödipus, dem die Füße durchstochen wurden, hat auch Ed als Kind Probleme mit den Füßen.

Mindestens so aufregend, vielschichtig und farbenprächtig wie Ed ist aber Gutersons Figur der Diane. Ihre Entwicklung beschreibt die eines brutalen, aber grandios selbsterfinderischen Frauenschicksals. Die Art, in der Guterson jede ihrer Wandlungen und Neuanfänge glaubhaft macht und mit neuen Gesten, Stylings und Sprachmodi versieht, ist wirklich nur kunstvoll zu nennen. Sie ist eine verquere und doch prototypische Selfmade-Woman und Verwandlungskünstlerin. Ihre Raffinesse hat sich als Überlebenstechnik aus vielfältigem Missbrauch entwickelt. Diane ist eine ganz und gar tolle Figur. In Ed und Diane treffen zwei gleich starke Charaktere aufeinander.

Guterson hat sie so gemacht, dass sie wie für einander geschaffen sind. Zu wissen, dass sie Mutter und Sohn sind und dass dieses Schicksal sie eines Tages einholen wird, bricht einem das Herz. Diese Wirkung zu erzielen, nämlich, dass man Mutter und Sohn aus tiefster Seele die Fortsetzung ihres Liebesglücks wünscht, das allein ist eine äußerst beeindruckende Leistung des Autors. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2012)

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