Wider den Schlaf der Vernunft

Die „große Erzählung“ der Auf-klärung ist obsolet, meinen die Postmodernisten. Manfred Geier geht einen anderen Weg: Mit Lebensbildern von sieben Vertretern der Aufklärung rekonstruiert er die Werte dieses großen Projekts und erhellt seine Bedeutung für die Gegenwart.

Aufklärung“, „Les Lumières“, „Enlightenment“ – ein ehemaliger Kampfbegriff ist inzwischen ein umstrittenes Projekt geworden. Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung, Abschied vom großen Projekt der Moderne haben jene Idee der Aufklärung zu zerzausen begonnen, die einst gegen Unterdrückung, Autoritäten und Dogmatik nicht zuletzt jene Ideen durchzusetzen begannen, die als allgemeine Erklärung der Menschenrechte inzwischen das allgemeine gesellschaftliche und politische Bewusstsein erobert haben. Wo die Gegner des Zeitalters der Aufklärung, im 18.Jahrhundert christliche Dogmatik, kirchliche Autorität und feudale Staatsgewalt, waren, sind es heute autoritäre Staatsgebilde islamischer Fundamentalisten, aber auch jene Bewegungen, die als „Post-Enlightenment“ in den USAbeschrieben werden können und die die Berufung auf Vernunft durch bloße Meinung, Glaubensgewissheit und Orthodoxie ersetzen. Ganz zu schweigen von jenen Regimen, die die „westlichen“ Werte der Demokratie, der Menschenrechte und der Freiheit ignorieren, wie dies in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China der Fall ist.

Vertraut man den Vertretern der sogenannten Postmoderne, so gehört die „große Erzählung“ der Aufklärung ohnedies in den Abfalleimer der Geschichte. Manfred Geier versucht es anders: mit kleinen Erzählungen, die sich gegen den Mainstream der Geschichtsschreibung auf die Bedeutung Einzelner richten, die Werte der Aufklärung und ihre gegenwärtige Bedeutung zu rekonstruieren. In sieben Lebensbildern versucht er, die selbstreflexive Frage „Was ist Aufklärung?“ in einem neuen Licht zu beantworten. Selbstverständlich nehmen dabei die englische, die französische und die deutsche Aufklärung mit allen Differenzen und Schattierungen den wichtigsten Platz ein. Immanuel Kants kleine Schrift „Was ist Aufklärung?“ fasst all diese Bestrebungen bunt zusammen. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Immer noch mutet diese Maxime als ein Appell an uns an, sich gegen Bevormundungen politischer, religiöser und ideologischer Art zur Wehr zu setzen. Es ist nicht zuletzt eine Aufgabe der Intellektuellen und des Brennpunktes Universitäten, Widerstand zu leisten, wo diese Werte der Freiheit, der Toleranz und der Authentizität gefährdet sind.

Geier erzählt Geschichten, in denen sich Naturrecht, Menschenrechte, Vertrauen auf die Vernunft miteinander verschlingen. Beginnend mit John Locke spannt er einen Bogen, der über Shaftesbury und dessen Moral sense zu den französischen Enzyklopädisten, zu Voltaire und im deutschen Sprachraum zu Moses Mendelssohn, Immanuel Kant und Humboldt führt. Dass er dabei der mutigen Frau Olympe de Gouges ein eigenes Kapitel widmet, bezeugt auch die im Zeitalter der Aufklärung immer noch umstrittene Stellung der Frau, die ihre Rechte mühsam erkämpfen mussten und müssen.

Vor der „Glorious Revolution“ über die „Virginia Bill of Rights“ bis zur „Declaration de droits de l'homme et du citoyen“, die de Gouges in Bezug auf Frauen unter dem Titel „Declaration de droits de la femme et de la citoyennes“ neu formuliert hat, bis zur Menschenrechtserklärung durch die UNO und die EU spannt Geier einen Bogen, in dem die Bedeutung der Philosophie ebenso wie die Problematik sozialer und politischer Institutionen herausgestrichen wird.

Kant und der Irak-Krieg

Der ungebrochene Glaube an die Vernunft, die diffizile Auseinandersetzung mit der Religion, vor allem bei Mendelssohn und Kant lassen unschwer Parallelen zur gegenwärtigen Situation erkennen. Deshalb verdient auch das Kapitel „Kant und der Irak-Krieg“ besondere Aufmerksamkeit, in dem der Autor die kontroverse Situation zwischen europäischer Aufklärung, US-amerikanischer Machtpolitik und dem islamischen Fundamentalismus aus der Sicht der weltbürgerlichen Haltung Kants beleuchtet. Derrida, Habermas und Robert Kagan kommen mit ihren kontroversen Auffassungen ebenso zu Wort wie Ralf Dahrendorf und Timothy Garton Ash. Unschwer lässt sich die Sympathie des Autors für die Position Europas in der Kantschen Perspektive erkennen.

Kants Religionsschrift sieht Geier als Höhepunkt der europäischen Aufklärung für ein säkulares Zeitalter, ebenso wie er Kants Schrift zum ewigen Frieden als einen Entwurf der Prinzipien für das Staatsbürger-, das Völker- und das Weltbürgerrecht betrachtet. Die Aktualität mit den gegenwärtigen Problemen der Europäischen Union ist nicht zu übersehen.

Sicher, Geier hat auch einen Blick für jene Seiten der Aufklärung, die immer wieder Gegenströmungen hervorgerufen haben: So sehr sich die französischen Enzyklopädisten um eine Verbindung klassischer Rationalität mit englischem Empirismus bemüht haben: Der szientistische Fundamentalismus, wie er uns in den Werken von La Mettrie, Helvetius oder Holbach entgegentritt, wirft bis heute dunkle Schatten auf diese Bewegung und findet in der gegenwärtigen Wissenschaftsgläubigkeit ihre Ausläufer. Auch Jean Jacques Rousseaus Aufklärungsprogramm, das gegen die Abstraktion der Wissenschaft gerichtet ist, wird als wichtiges Element dieser Bewegung betrachtet.

Immer noch wirkt die Forderung Kants nach, die Vernunft zu einem öffentlichen Gebrauch zu führen, auch wenn Kant mit seinem Begriff der „ungeselligen Geselligkeit“ einen durchaus realistischen Blick auf die Entwicklung des Menschenwesens geworfen hat. Spannend gelingt auch die Erzählung zu Moses Mendelssohn, dessen Stellung zwischen jüdischer Orthodoxie und der Beschwörung der Vernunft ihm nicht wenige Ungelegenheiten eingebracht hat. Mendelssohn, eine der Leitfiguren der jüdischen Aufklärung, der für eine Trennung von Staat und Kirche eintrat und, ähnlich wie Kant, die Religion als Gestaltung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch und nicht bloß als moralische Anstalt betrachtete, wird als einer der großen Kämpfer gegen die religiöse Schwärmerei charakterisiert.

Aufklärung heute? Wir stehen immer noch im Bann jener Ideen, die diese Männer in das Projekt Moderne eingebracht haben, auch wenn seine Schwächen deutlicher vor uns stehen als im 18.Jahrhundert. Aufklärung ist kein Zustand, sondern ein Prozess und letztlich eine Haltung. Diese manifestiert sich aus dem Geist Wilhelm von Humboldts, den Geier mit seiner Bildungsreform als aufgeklärten Selbstdenker darstellt. Die gegenaufklärerische Haltung der derzeitigen Universitätspolitik wird auf Dauer auf Humboldts Ideen zurückkommen müssen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2012)

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