Die Liste

Als „überflüssig“ eingestuft, wurden in den NS-Euthanasieanstalten Hartheim und Niedernhart mehr als 1000 Kinder und Jugendliche ermordet. Ihnen hat Waltraud Häupl nun ein Gedenkbuch gewidmet.

Ein Gedenkbuch, ein Schwarzbuch ist es, das Waltraud Häupl (nach ihren 2006 und 2008 publizierten Werken „Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund“ und „Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940–1945: Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Euthanasie“) nun vorlegt. Aufgelistet sind darin die Namen von 1067 in den Euthanasieanstalten Schloss Hartheim (der „am längsten betriebenen Mordstätte im Osten des Reiches“) und Niedernhart (Heil- und Pflegeanstalt in Linz) ermordeten Kinder und Jugendlichen. „Unwertes Leben“ war es, das systematisch ausgerottet wurde, da diese Kinder und Jugendlichen nach NS-Anschauung entweder „schlechtes Erbgut“ in sich trugen, behindert oder einfach nur „überflüssig“ waren.

In den Akten ist etwa zu lesen: „Kind ist hilfsbereit und verträglich, spielt gerne, dem Arzt gegenüber scheu, meidet seine Nähe...“ Oder: „Gesichtsausdruck blöd...“ Eines Kindes „Vater ist Säufer“, einem Baby wird bei der Geburt „dauernde Arbeitsunfähigkeit“ vorausgesagt, wie ein anderes zum Zeitpunkt seiner Geburt bereits als „schwachsinnig“ bezeichnet wird. Ganz zu schweigen von „typisch jüdischen Merkmalen“, sowohl in physischer als auch in sozialer Hinsicht, die jüdischen Kindern gerne bescheinigt wurden.

Es gruselt mich, wenn ich in den gut 250 Seiten blättere, auf denen die Namen und Daten der ermordeten jungen Menschen stehen, die so willkürlich von Ärzten und Psychiatern zum Tode verurteilt wurden. Es ist fast wie ein Besuch auf einem Friedhof: Man liest Name, Geburtstag, Herkunftsort und Einlieferungsdatum in eine der zwei Euthanasieanstalten, dazu manchmal die Gründe für eine Inhaftierung in einem KZ (viele kamen auch aus anderen „Heilanstalten“) sowie den Namen des Konzentrationslagers, wenn sie aus einem solchen geholt wurden (zumeist Mauthausen, bisweilen Dachau). Bei manchen ist auch das Todesdatum vermerkt. Es ist nicht zu begreifen, auch wenn alles schwarz auf weiß vor mir als Leser aufscheint.

Das jüngste ermordete und in dem Buch erfasste Kind ist nicht einmal einen Monat alt: „TSCHUNKO Rudolf – 26 Tage, geb.: 03.08.1941 Kreno; eingeliefert: ? 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart/Linz, † 29.08.1941.“ Ein anderes Kind ist erst zwei Monate alt: „WALZINGER Elisabeth – 2 Monate, geb.: 04.05.1943 Ostermiething, † 05.07.1943 in Niedernhart oder Hartheim.“ Und so setzt sich die Todesliste in alphabetischer Reihenfolge je nach Euthanasieanstalt fort.

Waltraud Häupl hat alle drei ihrer Bücher aus persönlicher Motivation verfasst: Ihre kleine Schwester Annemarie wurde 1942, „im Alter von vier Jahren, Opfer der NS-Kinder-Euthanasie am Spiegelgrund“. Leider kommen solche Werke erst häufig dann zustande, wenn eine persönliche Involvierung gegeben ist, doch ist unter solchen Umständen oftmals die Gefahr groß, dass zu subjektiv und emotional berichtet wird, was dem Thema nicht zugutekommt. Im Fall des vorliegenden Buchs sind zudem die orthografischen Fehler auf den wenigen Seiten mit den persönlichen Darstellungen ärgerlich. Auch die Expertenmeinungen der beiden Psychiater Werner Schöny (Präsident von „Pro Mente Austria“) und Peter Langer (Vorstand der zweiten Psychiatrischen Abteilung SMZ Baumgartner Höhe, Otto-Wagner-Spital Wien) sowie von Hubertus Trauttenberg, Gründer des Vereins „Schloss Hartheim“ (1995), sind zwar grundsätzlich wichtig, doch da diese drei Männer Mitautoren sind, wären eher dem Terminus Expertenmeinungen entsprechende Aussagen denn eine Auflistung von bekannten emotional-betroffenen Bemerkungen wie „Das darf nicht mehr geschehen“ oder „Wir müssen aus der Vergangenheit lernen“ im Epilog von Langer sinnvoll.

Werner Schöny schreibt in seinem Vorwort unter dem Titel „Besinnung auf die Wurzeln der Psychiatrie“ über die Verantwortung, die Ärzte allgemein und Psychiater im Besonderen haben. In der NS-Zeit haben jene Vertreter dieser Zunft ihre Autorität wirklich zum Schlechtesten verwendet und ihrer Machtsucht und ihrem infernalen Wissenswahn gefrönt. Schöny spricht außerdem die Hoffnung an, die in die Psychiatrie gesetzt wird: jene im Kontext einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz psychischer Anomalie. Hubertus Trauttenberg erläutert in seinem Prolog ganz kurz wichtige Fakten wie die Herkunft des Großteils der Opfer in Hartheim und Niedernhart, nämlich Slowenien, Böhmen, Teile in der „Ostmark“ und im sogenannten Altreich. Über die wichtigsten Protagonisten in diesem grauenhaften Umfeld berichtet er Folgendes: „Der leitende Arzt von Hartheim und Niedernhart, Dr. Rudolf Lonauer, beging mit seiner Familie Selbstmord, um sich der Verantwortung zu entziehen. Sein Stellvertreter, Dr. Georg Renno, kam nur kurz in U-Haft. Nachdem das Verfahren gegen ihn eingestellt wurde, verschwand er in Deutschland und lebte mehr oder minder unbehelligt bis zu seinem Tod im Jahre 1997.“ Jegliches Personal kam praktisch ungeschoren davon, und die österreichische Justiz „hat sich mit den sogenannten Euthanasiemorden kaum befasst“, wie auch sonst kaum jemand etwas davon wissen wollte – eine symptomatisch-typische Feststellung.

Wie Häupl in ihrem „persönlichen Prolog“ schreibt, waren viele der Opfer weder „unheilbar krank, noch baten sie um einen ,sanften Tod‘. Sie waren ihren Mördern ausgeliefert und konnten sich nicht wehren gegen Sadismus und blinden Gehorsam. Sie wurden für Gene, die angeblich zu körperlichen oder geistigen Gebrechen führten, verantwortlich gemacht von jenen, die ihre Schmerzen und Ängste hätten lindern oder heilen sollen.“ Allerdings kann, so meine ich, nicht einfach der „Gehorsam einer irrigen Ideologie gegenüber“, wie Häupl weiterführt, als Grund oder sogar Entschuldigung für das herhalten, wofür es einfach keine Entschuldigung gibt. Häupl nennt es eine „Gedenkdokumentation“, eben die dritte, die ein Beitrag dazu sein möge, „Mitgefühl und Verstand zu mobilisieren, um Menschenverachtung und Rassismus aus unserer Gesellschaft zu verbannen, damit gegenwärtige und zukünftige Generationen vor der Entwicklung derartiger Strömungen unserer jüngsten Geschichte bewahrt bleiben“.

So kann dieses Buch als Nachschlagewerk und Mahnmal im Bücherregal verwahrt werden und tatsächlich als Gedenkbuch für jene 1067 junge Menschen dienen, die einen so sinnlos-grässlichen Tod in Hartheim und Niedernhart erlitten. Schließlich betont Häupl zu Recht, dass „hinter jedem Namen ein junger Mensch steht, der die ihm oft bewusst verursachten Schmerzen ertragen musste“. ■


Waltraud Häupl
Spuren zu den ermordeten Kindern und Jugendlichen in Hartheim und Niedernhart
Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Euthanasie.

291 S., geb., € 29,90 (Böhlau Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2012)

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