Das erste Tablet

Hunderte Millionen Mal ist das magische Zeichenbrett „Etch A Sketch“ in den USA verkauft worden. Sein Erfinder, ein französischer Elektriker, ist kürzlich gestorben.

Manchmal, ganz selten, kann eine Allergie ein reiner Glücksfall sein. So wie im Fall von André Cassagnes. DerFranzose, geboren im September 1926, hätte eigentlich als Nachfolger seines Vaters Bäcker werden sollen, in dem Pariser Vorort Vitry-sur-Seine. Daraus wurde nichts – Cassagnes war gegen Mehlstaub allergisch, er wurde stattdessen Elektriker.

Gut so – denn hätte Cassagnes das Bäckerhandwerk erlernt, wäre eines der interessantesten Spielzeuge der vergangenen Jahrzehnte nie erfunden worden: die „Zaubertafel“, die als „Etch A Sketch“ besonders in den USA große Verbreitung fand.

Es ist gleichsam der Archetypus eines Spielzeugs, das Cassagnes 1960 erfunden hat: Ein von leuchtend rotem Plastik eingefasstes graues Zeichenbrett, mit dem man schnell ausdrucksstarke Skizzen anfertigen kann – auch ohne einen Stift gerade führen zu können, ohne Verletzungsgefahr und ohne dass dadurch zu viel Papier verschwendet würde.

Mittels Drehens zweier Knöpfe bewegt man einen Punkt über den Kunststoffbildschirm, unter dem Aluminiumpulver eingefärbt wird. Aufgrund der Technik – weder Stift noch Pinsel ist notwendig – haben solche Zeichnungen einen ganz besonderen zackigen Stil. Und wenn man sich einmal verzeichnet, ist es auch nicht weiter schlimm: Schüttelt man das Etch A Sketch, ist die Zeichnung wieder gelöscht, indem sich das Aluminiumpulver neu verteilt. Das Attraktive an der Tafel ist – besonders für Kleinkinder – dass die Linien wie aus dem Nichts unter der Zeichenfläche auftauchen; es ist eine Art Magie, könnte man sagen.

Und wie es mit magischen Dingen so ist, war auch die Entstehung des Etch A Sketch reiner Zufall. Cassagnes setzte gerade einen Lichtschalter in einer Elektrowarenfabrik zusammen. Nachdem er die Schutzfolie von der Schaltplatte abgelöst hatte, stellte er fest, dass Bleistiftmarkierungen, die er auf der Folie gemacht hatte, sich auf die andere Seite durchgedrückt hatten und dort stehen blieben. Wie konnte das passieren? Nun: In der Fabrik wurde gleichzeitig auch eine Wandverkleidung hergestellt, für die Aluminiumstaub verwendet wurde. Teilchen dieses Staubes hingen nun durch statische Elektrizität an der Unterseite des Schutzplastiks fest – und die Bleistiftspur, die Cassagnes durch das Staubbett zog, blieb als deutlich sichtbare Linie zurück.

Cassagnes ließ der Gedanke mit den Spuren im Metallstaub nicht mehr los: Er begann, mit der Technik zu experimentieren, und präsentierte 1957 auf einer Erfindermesse erstmalig „L'Ecran Magique“, einen „magischen Bildschirm“, der dem fertigen Etch A Sketch schon ziemlich ähnlich war – abgesehen von Details wie dass anstelle der Steuerknöpfe ein einzelner Joystick angedacht war.

Wie der „Spiegel“ berichtet, gab es in den der ersten Präsentation folgenden Jahren einige Verwirrung darüber, welchen Lauf Cassagnes Erfindung nahm. Denn auf dem Patent für „L'Ecran Magique“ steht nicht nur der Name André Cassagnes, sondern auch jener Arthur Granjeans. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass der Erfinder 1957 nur ein erstes Konzept zum Patent angemeldet hat – aber noch nicht die fertige Technik.

Das sollte erst im Mai 1958 geschehen sein: Der Erfinder habe sich damals, so der „Spiegel“, an das französische Unternehmen MAI gewandt, um seine Zaubertafel zu Ende entwickeln zu können und das Patent zu finanzieren. Der Inhaber des Unternehmens, Paul Chaze, beauftragte während dieser Zeit seinen Buchhalter, Arthur Granjean, das Patent für das fertige Produkt einzureichen; das tat er – allerdings unter unter seinem Namen.

In Frankreich kam die Erfindung dann unter dem Namen „Telecran“ (TV-Schirm) auf den Markt – 1959 wurde sie außerdem auf der Nürnberger Spielzeugmesse offiziell präsentiert. Dort sah sich auch Henry Winzeler, Gründer der Ohio Toy Company, nach neuen Ideen um – und kaufte die Rechte an dem Gerät um 25.000 Dollar. Es sollte eines der besten Geschäfte seines Lebens werden.

Gemeinsam mit Technikern der Toy Company entwickelte Cassagnes im folgenden Jahr seine Erfindung weiter – 1960 kam Etch a Sketch so auf den Markt, wie man es bis heute kennt: zwei Knöpfe, ein grauer Schirm, ein roter Rahmen. Noch im Weihnachtsgeschäft 1960 wurde das Spielzeug zu einem der meistverkauften Stücke des Jahres und zum Fundament für die Ohio Toy Company. Bis heute sollen allein in den USA rund 150 Millionen Stück verkauft worden sein – auch wenn zuletzt die Verkäufe deutlich geschrumpft sind, woran Smartphone- und Tablet-Zeichenprogramme wohl nicht ganz unschuldig sein dürften. Wobei: In gewisser Weise sind viele der Zeichenprogramme der neuen Medienwelt geistige Erben von Etch A Sketch: Wie im Aluminiumstaub des Spielzeugs verschwinden Kunstwerke auch dort mit einem Wischen wieder.

Einmal ging es noch bergauf (aus der Ohio Toy Company ist inzwischen die Ohio Art Company geworden), als ein Etch A Sketch in dem Animationsfilm „Toy Story“ gezeigt wurde – auch das ist aber wohl ein Strohfeuer geblieben.

„Not an engineer, but ingenious“

Nicht, dass es André Cassagnes viel gebracht hätte: Er hatte die Rechte an seiner Erfindung um 10.000 Dollar an Paul Chaze abgetreten, der im Lauf der Zeit ein Vielfaches an Lizenzzahlungen aus den USA und aller Welt einnahm. Cassagnes beteiligte sich nur an den Verkäufen seiner Erfindung in Frankreich; reich ist er damit nicht geworden.

Er selbst hat weiterhin als Elektriker für ein und dasselbe Unternehmen gearbeitet, bis er 1987 in den Ruhestand getreten ist. Er fuhr zwar fort, an Spielzeugen zu basteln, seine neue, große Leidenschaft aber wurden die Flugdrachen. Er wurde in der Drachenszene Frankreichs ein hoch geschätzter Designer und Techniker, was die Geräte anging. 1992 sagte er einem Hobbymagazin – und des in diesem Fall schwer übersetzbaren Wortes „ingenious“ wegen bleiben wir kurz im Original: „I am not an artist, but I love symmetry and geometry. I am not an engineer, but I am ingenious.“

Am 16. Jänner ist Cassagnes in einem Pariser Vorort gestorben. Er wurde 86 Jahre alt und hinterlässt eine Frau, drei Kinder – und ein magisches Spielzeug, das Millionen Menschen auf der ganzen Welt einen Funken Kreativität gelehrt hat. Besonders die Amerikaner, die Etch A Sketch aus ihrer Kindheit kannten, dankten es ihm mit einer Welle des Lobes – und die Ohio Art Company mit dem wunderbaren Plakat links. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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