Verliebt oder verzockt

Videospiele, die von der Liebe handeln, sind in Europa kaum bekannt. In Japan stellen sie eines der beliebtesten Genres dar. Denn sie täuschen vor, die Partnersuche nicht nur lernen zu können, sondern manchmal auch abzuschließen.

Mami Kajimura lächelt endlich in sich hinein. Sie steht in der Tokioter Innenstadt. „Jetzt hat's geklappt“, sagt sie und blickt zur Ampel, die gerade auf Grün umspringt. „Aber es wurde auch Zeit.“ Wie sonst sollte die Reaktion ausfallen, wenn man endlich seinen Traummann erobert hat? Erleichtert schlendert die 20-jährige Studentin über die Straße und steuert die nächste Haltestelle an. Wie jeden Morgen im Berufsverkehr.

Aber zum ersten Mal ist sie so weit gekommen wie heute. „Am Ende haben wir uns geküsst. Er war so romantisch. Zuerst hat er ganz lange nach vorn geschaut, und nach einem Moment Stille war es so weit. Ich war, ehrlich gesagt, etwas nervös.“ Ein besonderer Kuss, einer, den Kajimura nicht beschreiben kann. Wirklich erlebt, gespürt, hat sie ihn nämlich nicht. Der charmante Herr hat pinkfarbenes, verzotteltes Haar, gelbliche Haut, sieht aus wie ein Zeichentrickcharakter und bewegt weder beim Sprechen noch beim Küssen auch nur irgendeinen Muskel. „Ich liebe ihn trotzdem“, grinst Kajimura.

Mami Kajimura liebt den pinkhaarigen Traumkerl, weil es die Regeln so vorschreiben. Seit sie sich das Spiel „My Boy“ vor einigen Wochen auf ihr Smartphone geladen hat, ist es ihr Auftrag gewesen, den Mann zu erobern. Die erste Begegnung war noch holprig gelaufen. „Ich hatte nicht das richtige Outfit an.“ Für 100 Yen kaufte sie mit echtem Geld eine modische Brille und ein hübsches Kleid, beim nächsten Date lief es besser. Später besorgte sie sich ein Fitnessgerät, um an ihrem Körper zu arbeiten. Wieder 100 Yen. Und dann musste sie noch die richtigen Worte finden. „Ich musste erst erfahren, was er überhaupt für ein Typ ist. Ich wusste nicht gleich, wie zärtlich und gleichzeitig zurückhaltend er sein kann.“ Doch jetzt, da Kajimura es geschafft hat, ist das Ganze auch schon wieder vorbei. Der Kuss war die Belohnung für geschicktes Dating. Bald will sie sich das nächste Spiel besorgen. Sogenannte Liebessimulationen sind in Japan extrem populär. Durchschnittlich beliebte Spiele werden von zehntausenden Spielern betrieben, die sich auf dem Handy in virtuelle Persönlichkeiten verlieben oder zumindest so tun. Unzählige Formate in diversen Variationen sind in den letzten Jahren auf den Markt gedrängt. Es gibt sie für Burschen, die Mädchen erobern, Mädchen, die Burschen verführen, und über homosexuelle Beziehungen. Anders als in den meisten Ländern, wo die romantische Liebe kaum als virtuelle, interaktive Welt vorstellbar scheint, gehört dieses Genre in Japan zu den beliebtesten der Videospielebranche.

Vor 20 Jahren kamen solche Kreationen erstmals in japanische Geschäfte, damals für den PC. Mit verstärkten Rechenleistungen der Plattformen wurden auch die Spiele immer anspruchsvoller und beliebter. Als der Boom der Smartphones begann, erschien das mobile Zocken trotz plötzlich reduzierter Spielqualität als tolle Innovation. „Viele Menschen sehnen sich nach Romantik“, sagt der Entwickler Audry Margadewanta. „Dieses Bedürfnis mit einer Art interaktivem Film zu stillen, liegt doch eigentlich auf der Hand. Und wenn es mobil ist, können sie es ständig spielen, immer wieder ein bisschen.“ Der gebürtige Indoneser arbeitet seit einigen Jahren für den japanischen Spieleentwickler Zzyzx. Gerade hat der Informatiker seine erste Liebessimulation geschrieben.

In Margadewantas Entwicklung „Kokuhaku“ (auf Deutsch: Geständnis) hat die männliche Hauptfigur ihr Gedächtnis verloren. Eine weibliche Figur, die vom Spieler gesteuert wird, muss versuchen, ihn daran zu erinnern, wie liebevoll die gemeinsame Beziehung war. „Alles läuft über Unterhaltungen der beiden Charaktere, und man muss vorsichtig sein, was man sagt, denn der Mann hat ja kein Vertrauen mehr in sie.“ Einige Zehntausende spielen es bereits, sagt Margadewanta. Er selbst habe es auch schon gespielt, habe statt des amnesischen Freunds allerdings eine weibliche Figur angegraben und diese erobert.

Aber was ist an dieser ausgedachten, gespielten Liebe so toll? Eine Erklärung könnte Einsamkeit sein. In Japan leben viele junge Menschen als Singles, und deren Zahl steigt seit Jahren. Ende 2011 sorgte eine Befragung der Regierung für Aufsehen, nach der 61Prozent der unverheirateten Männer und die Hälfte der Frauen zwischen 18 und 34 Jahren keinen Partner hatten. Ein knappes Viertel sagte, sie seien auch nicht auf der Suche, und ein ähnlicher Anteil aller Befragten zwischen 35 und 39 Jahren gab an, niemals Sex gehabt zu haben.

Eroberung auf dem Touchscreen

„Für mehrere meiner Freunde sind diese Spiele ein Ersatz“, sagt Miho Noji, eine 24-jährige Büroangestellte aus einem Vorort Tokios. Nojis Freundinnen verbringen ihre ganze Freiheit damit, einen neuen Typen zu erobern – auf dem Touchscreen. Im wahren Leben sind sie Singles, wünschen sich aber jemanden an ihrer Seite. „Ich glaube, sie steigern sich da in einen Traumtypen hinein, und es wird dadurch nur schwieriger, einen echten, passenden Partner zu finden.“ Als Noji vor Kurzem TV-Werbespots für einige solche Spiele sah, bekam auch sie Interesse, vor allem da sie sich gerade von ihrem Freund getrennt hatte. „Aber ich hab mich gestoppt. Das wäre mir nicht bekommen.“

Für andere wirken die Spiele auch als eine Art Ratgeber. Auf japanischen Bestsellerlisten stehen nicht selten Bücher oben, die den Lesern die Lösungen zu verschiedenen Alltagsproblemen versprechen. „Wenn ich im Spiel abblitze, weiß ich auch bei echten Situationen so ungefähr, was ich vermeiden sollte“, sagt Mami Kajimura. Auch sie ist Single, eigentlich aber auf der Suche. Die Spiele geben ihr sogar Liebe. Dass sie in den Typen aus ihrem Handy verliebt ist, sei zwar übertrieben. „Ein bisschen stimmt es aber. So stelle ich mir den idealen Partner vor. Er ist zuvorkommend, charmant und treu.“

Die Ratgeberfunktion haben Simulationsspiele auch in anderen Bereichen. Viele Formate, die erst ab 18 Jahren freigegeben sind, zielen darauf ab, Frauen oder Männer ins Bett zu kriegen, bei gutem Ende folgen Sexszenen. Im Tokioter Trendviertel Akihabara gibt es für dieses Genre eigene Geschäfte, die sich nach diversen Subgenres sortieren. Mami Kajimura hat auch das schon ausprobiert. Im Berufsverkehr, wenn die Fahrgäste in den überfüllten U-Bahnen regelmäßig eng aneinandergepresst stehen, will sie es aber nicht spielen. „Und ich weiß auch nicht“, sagt sie, „ob es in meinem Privatleben wirklich helfen würde.“ Einige Dinge müsse man schon live erleben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2013)

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