Ta Ma Got Chi, für immer

Ein elektronisches Plastikei, das Futter will, wurde einst zu einem der beliebtesten Spielzeuge der Welt. Außerhalb Japans ist das Tamagotchi schon lange nicht mehr zu finden. In seiner Heimat lebt es wie eh und je.

Ein niedliches, eiförmiges und eigroßes Plastikgerät mit pixeliger Digitalanzeige, auf dem ein noch etwas kleineres, rundes Wesen um Liebe, Nahrung und Medikamente plärrt. Diese primitive Idee eines virtuellen Haustiers genügte in den 1990ern, um zu einem der notorischsten Spielzeuge des Jahrzehnts zu werden. Das Tamagotchi, was vom Japanischen ins Deutsche übersetzt in etwa „Eieruhr“ bedeutet, bettelte um Futter, das virtuell per Knopfdruck verabreicht wurde. Ebenso konnte es Liebe nur über einen Knopf erhalten. Doch das reichte damals und reicht noch heute: Das Tamagotchi hat sich weltweit rund 80 Millionen Mal verkauft.

Aber gibt es überhaupt „das“ Tamagotchi? Über 17 Jahre lang sind unzählige Versionen auf den Markt gekommen, die erste im November 1996 in Japan. Dem Herrchen standen damals drei Knöpfe zur Verfügung, mit denen er seinen Freund versorgen konnte. Wurde dieser gut behandelt, wuchs er, bekam dadurch aber auch noch mehr Hunger. Um die 20 bis 25 Tage konnte ein Tamagotchi alt werden, wenn er Glück mit seinem Besitzer hatte. Er konnte aber auch schon nach ein paar Stunden sterben, wenn er nicht genügend Zuneigung bekam.

Das Spiel, das mit der Niederlage endete, wenn das Tamagotchi aus Mangel an eben Liebe, Essen oder Gesundheit gestorben war, wurde mit seinem zunehmenden Alter schwieriger – wie auch in fast jedem Computerspiel, das an einer Konsole gespielt wird und in dem die Schwierigkeitslevels höherschalten. Aber anders als Egoshooter oder Fußballspiele sollte das Tamagotchi neben dem Spaßfaktor auch pädagogischen Wert haben. Mit der ersten Version, die vor allem Schulkinder spielten, sollten junge Menschen lernen, Verantwortung zu tragen und möglichst fürsorglich mit einem Wesen umzugehen, das von ihnen abhängig ist. Den gleichen Effekt hätten zwar auch echte Tiere bringen können, aber die 1990er standen eben im Zeichen der Hightechspielzeuge, das Tamagotchi traf den Nerv.

Allerdings kamen sich die Besitzer und deren Spielzeuge manchmal bedenklich nahe. Was ein Tamagotchi an Krankheiten ereilen konnte, schien auch vor den Herrchen nicht sicher. Nicht nur, dass viele Kinder nicht bloß eines, sondern manchmal 20 Tamagotchis besaßen und mit all den Pflichten überfordert waren. Eltern sorgten sich auch, dass ihre Kinder nicht mehr genügend schliefen, weil sie sich nur noch um die Plastikeier kümmerten. Bei frühen Toden kam es manchmal zu tiefer Trauer, der Begriff Depression lag auf Elternabenden in der Luft.

Das Tamagotchi war schnell ein internationaler Erfolg geworden. Die Plastiktiere überfluteten die Märkte, beherrschten nicht nur die Schulhöfe, sondern oft genug auch den Unterricht. Lehrer kassierten sie ein, weil sie sonst vor lauter Gepiepse, wenn wieder einmal ein Tamagotchi irgendetwas brauchte, ihren Unterricht gestört sahen. Nur kurze Zeit blieb das lebendige Plastikei in Europa beliebt. Die deutsche Popband Squeezer wurde dann auch mit dem Lied „Tamagotchi“ berühmt. Spätestens gegen Ende des Jahrzehnts aber, als diese Zehnjährigen älter geworden waren, flachte die Begeisterung ab.

Doch nicht so auf dem Heimatmarkt, oder: nicht mehr. Nach seinem Verkaufsabsturz hielt das Tamagotchi auch in Japan einige Jahre Dornröschenschlaf. Aber seit Februar 2004 hat der ursprüngliche Tamagotchi-Entwickler, Bandai, Weiterentwicklungen auf den Markt gebracht. In Tokios Spielzeugläden sind seitdem wieder diverse Versionen zu finden. Ein Farbdisplay, damals schon bei Handys ein utopischer Gedanke, ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit.

Das Tamagotchi von heute, das noch immer in ein Plastikei verpackt sein kann, hat viel mehr Fähigkeiten als früher. Der Charakter ist zum Beispiel nicht mehr einheitlich, sondern kann von temperamentvoll bis pflegeleicht variieren, auch verschiedene Geschlechter gibt es. Und das Herrchen hat mehr Optionen, was den Umgang angeht. Das Tamagotchi kann trainiert, gewaschen, amüsiert oder kritisiert werden, die Reaktionen variieren entsprechend. Die neuen Varianten sind auch zu sozialen Haustieren geworden. Die „Tamagotchi Connexion Version“ kann sich etwa mit anderen Tamagotchis verbinden und sich mit diesen anfreunden, streiten oder ihnen Geschenke machen. Bisher sind der ersten interaktiven Version vier weitere gefolgt. Auch eine Infrarotstelle für Handys ist integriert.

„Nintendog“ statt Plastikei

So schnell wird das Tamagotchi wohl zumindest aus Japan nicht wieder verschwinden. Das Prinzip wird nämlich auch wieder kopiert, wie es schon in den 1990er-Jahren auf dem Schwarzmarkt der Fall war. Auf der tragbaren Konsole Nintendo DS kam 2005 etwa „Nintendogs“ heraus, in dem ein virtueller Hund die Rolle des Tamagotchi übernimmt. Auch auf den Weiterentwicklungen der Konsole kann „Nintendogs“ gezockt werden. Das geistige Vorbild des Spiels ist offensichtlich.

Und natürlich ist das Tamagotchi auch online. Als einfache Spiele werden sie auf Websites zum Zeitvertreib angeboten, die Animeserie „Saiko! Tamagotchi“, die vom Leben eines Tamagotchi handelt und vor fünf Jahren ausgestrahlt wurde, ist auf Videoplattformen wie YouTube nach wie vor beliebt. Außerdem gibt es seit vier Jahren unter dem Titel „Tamagotchi!“ schon ein neues Anime zum Thema.

In gewisser Weise sind die Plastikeier ohnehin unvergänglich. 1998 ging eine Nachricht aus England um die Welt, weil in einer dörflichen Gegend im Süden des Landes ein Tamagotchi-Friedhof eingerichtet worden war. Der US-amerikanische Fernsehsender CNN berichtete damals von einem 14-jährigen Mädchen, das sein verstorbenes Haustier so in Erinnerung behalten wollte, wie es war. Den Neustartknopf an der Rückseite zu drücken, um einfach ein neues Leben zu beginnen, wäre ihr falsch vorgekommen.

Ähnliches spielt sich heute im Internet ab. Virtuelle Grabsteine gibt es auf Websites. Eine Anzeige des Users jordboss vom August auf www.tamatalk.com trauert: „Heute ist mein PS Mimitchi mit 23 Jahren an Altersschwäche gestorben. Sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen, sie war besonders und bedeutete mir viel. Ruhe in Frieden, Soph.“ Ob jordboss sich schon ein neues Tamagotchi besorgt hat, hat der Nutzer nicht erwähnt.

Und auch in Deutschland ist das Plastikei nicht ganz in Vergessenheit geraten. Als die Band Die Ärzte im Frühjahr 2012 ihr neues Album „Auch“ herausbrachte, lautete ein Titel „Tamagotchi“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2014)

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