„Mein Gott, es ist voller Sterne!“

„Procedural Generation“ heißt einer der aktuellen Trends im Design digitaler Spiele. Das ermöglicht es gleichermaßen, unbegrenzt durch das Universum zu fliegen – oder es mit öden Illusionen von Abwechslungsreichtum zu füllen.

Das Weltall ist ziemlich groß. Und ziemlich leer. Und trotzdem gibt es dort ziemlich viel zu sehen. Das sind drei Erkenntnisse von überschaubarer Originalität. Und trotzdem ist es nicht so einfach, sich bewusst zu machen, dass wir auf einem Planeten leben, der eine von 300 Milliarden Sonnen allein in unserer Galaxie umkreist. Und dann ist da noch die Tatsache, dass es wohl Dutzende Milliarden weiterer ebenso großer Galaxien gibt. Allein die Dimension der Zahlen, die vielen, vielen Nullen, sind für Normalsterbliche unvorstellbar – und dann kommen noch Distanzen (bis zum nächsten Sonnensystem sind es 4,3Lichtjahre, das sind rund 40,7 Billionen Kilometer) und die Dreidimensionalität dazu. Kurz: Sich das Universum jenseits unserer neun Planeten vorzustellen ist eher eine schwierige Übung.

Abhilfe schafft die „Space Engine“ des russischen Programmierers Wladimir Romanyuk: ein Kunstwerk von einem Programm, und noch dazu kostenlos zum Download verfügbar (primär über die Website spaceengine.org). In einer 850 Megabyte großen Datei findet sich das gesamte bekannte Universum – und mehr. Als körperloser Beobachter gleitet man in dem Programm durch das Universum, beobachtet, wie Planeten ihren Orbit um Sonnen ziehen, besucht Alpha Centauri, den Pferdekopfnebel oder andere Himmelsphänomene. Die original simulierten Distanzen lassen sich dank frei wählbarer Geschwindigkeiten von einem Meter bis zu mehreren tausend Parsec pro Sekunde schnell überwinden, dank einer Autopilotfunktion lassen sich Himmelskörper wie Sterne auch binnen weniger Momente direkt ansteuern. Einfach nach dem zweiten Stern links und dann nach oben gesteuert kann man aus einer Distanz von einigen hundert Parsec ein wunderbares Panorama der Milchstraße sehen – und in der Finsternis dahinter vereinzelt weitere Galaxien erkennen. Wer will, fliegt weiter dorthin und sucht in deren Milliarden Systemen nach Planeten, oder man beobachtet, wie die Erde über das Jahr ihre Position ändert. Space Engine ist, besonders auf großen Monitoren, eine beeindruckende Erfahrung. Ein Spielziel oder andere Inhalte gibt es in „Space Engine“ derzeit nicht – vorerst ist das Ganze eine Übung in blanker Schönheit.

Der Trick, mit dem ein einzelner Programmierer ein ganzes Universum simulieren kann – bis hinunter zu auf wenige Meter genau simulierten Planeten –, heißt „Procedural Generation“, zu Deutsch prozedurale Synthese. Denn natürlich hat Romanyuk nur die uns bekannten Himmelskörper aus Raumforscherdatenbanken übernommen – dass man mit „Space Engine“ auch in fernen Galaxien detaillierte Planeten und ganze Systeme vorfindet, egal, in welche Richtung man sich wendet, liegt an cleveren Algorithmen.

„Procedural“ heißt, dass das Computerprogramm selbst Landschaften aus vorgegebenen Elementen erschafft und sie dem Spieler zur Verfügung stellt – theoretisch sind solche Welten unendlich, weil mit jedem Schritt genug neue Landschaft entsteht, um dem Spieler den Eindruck zu vermitteln, es würde immer so weitergehen.

Solche computergenerierten Landschaften sind in den vergangenen Jahren zum Trend vor allem unter unabhängigen, also kleineren, Spieleentwicklern avanciert, die sich nicht lange Entwicklungszeiten für handgemachte Landschaften leisten können. Mit prozeduralen Algorithmen ist diese Aufgabe vergleichsweise einfach: Hat man dem Computer einmal beigebracht, wie er die Spielewelt füllen soll, muss man darauf keine Gedanken mehr verschwenden.

Neu ist die Idee von der prozeduralen Synthese nicht: Eines der frühesten Beispiele war das Weltraumspiel „Elite“, das 1984 durch diese Technik mit der unglaublichen Zahl von 248 Galaxien aufwarten konnte, gefüllt jeweils mit 156 Sternensystemen. Ausgeliefert wurde das Spiel dann aber „nur“ mit acht solchen Galaxien – der Hersteller war der Meinung, dass eine so gigantische Zahl dem Käufer zu deutlich vor Augen führen würde, dass er hier mit digitaler Fließbandware abgespeist würde.

Digitale Fließbandware

Eine Befürchtung, die bis heute viele Spieler teilen, denn natürlich sind die Landschaften, die prozedural generiert werden, mit sich wiederholenden Mustern und Objekten gefüllt, was die Immersion, also das Eintauchen des Spielers in die Fantasiewelt, schwieriger macht – authentische Landschaften zeichnen sich eben dadurch aus, dass an ihnen praktisch alles einzigartig ist. Um solche Landschaften prozedural zu erzeugen, ist aber (noch) ein Aufwand notwendig, der die Ersparnis durch diese Technik praktisch negiert.

Unter diesem Wiederholungseffekt leiden vor allem Spiele, die die prozedurale Technik verwenden, um praktisch unendliche Welten zu erzeugen: „Daggerfall“ etwa, das 1996 eine Spielwelt der doppelten Größe Großbritanniens eröffnete, von der 99 Prozent allerdings langweilig, mit nur eher öden Abenteuern durchsetzt waren.

Erstklassige Spiele mit Millionenbudgets verzichten daher auf prozedurale Landschaften – zugunsten handgemachter, glaubwürdigerer Regionen, die mit vielen Details versetzt wurden. Stattdessen werden prozedurale Algorithmen in solchen Spielen für Detailarbeit eingesetzt, etwa, um Laub auf Bäumen zu erzeugen, das in Handarbeit zu aufwendig wäre.

Eine Ausnahme stellen etwa die ersten Spiele der Diablo-Reihe dar: Deren Dungeons wurden ebenfalls prozedural erzeugt – mit dem Vorteil, dass sie bei jedem Spieldurchlauf anders waren und somit mehrfaches Durchspielen abwechslungsreich und attraktiv hielten.

Zu den erfolgreichsten Spielen, die ihre Welten prozedural erzeugen, zählen solche, die dem Spieler eine Welt zur freien Gestaltung überlassen: etwa die beiden Indie-Hints „Minecraft“ und „Dwarf Fortress“. Beide erzeugen ihre Landschaften durch Algorithmen – weil sie grafisch eher bescheiden sind, fällt das aber nicht weiter auf.

Oder eben im Weltraum. Denn wo Planeten so weit auseinanderliegen, wo Sterne aus der Distanz einer wie der andere wirken, sind gelegentliche Ähnlichkeiten und Wiederholungen kaum mehr problematisch. Was Programme wie die „Space Engine“ wunderschön zu betrachten macht – und, mit etwas Witz, sogar zum Nachdenken darüber anregt, inwieweit auch unser Universum nicht für sich prozedural erzeugt worden ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2014)

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