Das Erbe der Magie

Mit „Android:Netrunner“ hat der Verlag Fantasy Flight ein nahezu perfektes Kartenspiel für jene geschaffen, die „Magic“ entwachsen sind, aber Deckbauund Ressourcenmanagement dennoch nicht missen wollen. Eine Empfehlung.

Dass es heute überhaupt noch Kartenspiele gibt, also jene Sorte Spiel, die sich vergleichsweise einfach zum Spielen auf dem Computer konvertieren lässt, ist schon an sich ein kleiner Triumph des Bedürfnisses nach Dinghaftem. Aber dass es sogar immer wieder neue Kartenspiele gibt, mutet dann doch geradezu anachronistisch an. Gemeint sind freilich weniger Varianten „klassischer“ Spiele wie „Schnapsen“ oder „Tarock“, „Poker“ oder „Bridge“ – dort dürfte das Innovationspotenzial vorerst ausgereizt sein – als gänzlich neue Spielsysteme, für die eigene neue Kartendecks erschaffen werden. Dass bedruckte Pappkarten praktisch parallel zur Entwicklung der digitalen Netzkultur noch einmal zu einem guten Geschäftsmodell werden sollten, ist vor allem Verdienst eines Mannes: Richard Garfield, Jahrgang 1963, Computermathematiker aus Philadelphia. Er hat Anfang der 1990er-Jahre für die bis dahin international praktisch bedeutungslose Spielefirma Wizards of the Coast „Magic: The Gathering“ ersonnen, den Übervater der „Trading Card Games“.

Magics Grundkonzept: Die Spieler stellen sich aus einer Masse an Karten unterschiedlichster Eigenschaften Decks zusammen und spielen damit gegeneinander. Thematisch stellt das Spiel den Kampf von Zauberern gegeneinander dar, die den ganzen Katalog der Fantasy-Literatur darbieten: Kreaturen werden beschworen, Feuerbälle und Blitze aufeinander geschleudert, und auch Verzauberungen finden statt – alles repräsentiert durch Karten.

Im Duell entscheiden zwei Komponenten über Sieg oder Niederlage: erstens die Komposition des Decks – also möglichst viele Karten hineinzupacken, die sich durch Interaktion gegenseitig verstärken bzw. den Gegner schwächen – und zweitens das kluge Abwägen des Ressourceneinsatzes im Spiel: Spiele ich etwa eine starke Kreaturenkarte, die den Gegner angreift, oder viele kleinere, die seine angreifenden Horden abfangen können?

Die andere – und zu ihrer Zeit höchstinnovative – Komponente des Spiels ist das Drumherum: Die Kartenhersteller (inzwischen gehört Wizards of the Coast zum Spielzeugriesen Hasbro) verkaufen bestimmte Karten nicht direkt, sondern wie Sammelkarten in zufällig zusammengestellten Paketen zu je 15 Karten. Wer also für sein Deck eine bestimmte Karte benötigt, muss entweder so viele Packungen kaufen, bis er sie zufällig zieht – oder mit anderen Spielern handeln. Diese soziale Komponente war es, die den Siegeszug von „Magic“ in den 1990ern begründet hat, noch heute hat das Spiel weltweit eine enorme Anhängerschaft.

Allerdings auch Konkurrenz. Gerade in den letzten Monaten hat sich in all jenen Foren der Freunde des analogen Sammelns (wie der Nerd-Burg boardgamegeek.com oder dem ausgelassenen Blog shutupandsitdown.com) die Begeisterung für ein anderes Sammelkartenspiel ausgebreitet, nämlich für das durchwegs clevere „Android:Netrunner“. In seiner Grundvariante stammt „Netrunner“ ebenfalls von „Magic“-Autor Garfield, der es bereits 1996 konzipiert hat – nur ist das Spiel damals neben dem großen Bruder „Magic“ einfach untergegangen. Ende 2012 hat der Verlag Fantasy Flight aus Minnesota – an dieser Stelle bereits für sein fantastisches „Game of Thrones“-Brettspiel geehrt – erkannt, dass die Generation, die mit „Magic“ groß geworden ist, bereit für ein komplexeres Spiel wäre. FF veröffentlichte die Neuauflage „Android:Netrunner“ und wird seither dafür gefeiert.

„Netrunner“ verhält sich zu „Magic“ ähnlich wie „Go“ zu „Schach“: Geht es bei dem älteren Kartenspiel letzten Endes vor allem darum, Kreaturen aufeinanderzuhetzen, lässt Android den beiden Spielern viel mehr Möglichkeiten. Dem Setting nach steht hier in einer dystopischen „Cyberpunk“-Zukunft (ein Genre, das seine Ästhetik von Filmen wie Fritz Langs „Metropolis“ oder Ridley Scotts „Blade Runner“ ableitet) ein anarchistischer Hacker üblen multinationalen Konzernen gegenüber, die jede Facette menschlichen Lebens kontrollieren.

Die Spieler schlüpfen abwechselnd in jeweils die Rolle des Hackers oder des Konzerns – üblicherweise hat jeder Spieler je ein Deck für beide vorbereitet. Und das ist die erste Besonderheit von „Netrunner“: Es ist ein asymmetrisches Spiel; der Hacker hat völlig andere Möglichkeiten als der Konzern.

Ziel ist es, sieben Punkte über sogenannte Agenda-Karten zu sammeln – diese finden sich aber nur im Deck des Konzerns, der die Punkte erhält, indem er sie ausspielt und mit Credits aktiviert, neben einer beschränkten Zahl von Handlungen pro Zug (drei für den Konzern, vier für den Hacker) eine der beiden Ressourcen des Spiels.

Unterschiedliche Rollenverteilung

Die Schönheit von „Netrunner“ liegt in der unterschiedlichen Rollenverteilung: Im Gegensatz zum Konzernspieler zieht der Hacker selbst keine Karten – er kann aber die verschiedenen Kartenpools des Konzerns „hacken“, etwa seinen Ablagestapel, seine noch ungenützten Karten oder sogar seine Hand. Soll heißen, wenn der Konzern sich nicht verteidigt, kennt der Hacker schnell seine Karten besser als er selbst – und kann diese über verschiedene Aktionen kontrollieren, zum Beispiel die punktenden Agendakarten einziehen. Der Konzernspieler steht dem aber nicht wehrlos gegenüber, sondern kann vor jedem seiner Stapel Abwehrmaßnahme errichten, die der Hacker erst einmal überwinden muss – was auf dem Spieltisch deutlich ersichtlich ist: „Netrunner“ ist auch in Bezug auf visuelles Feedback ein Lehrstück in Sachen Spieldesign.

Nicht nur spielerisch ist „Netrunner“ ein Lichtblick, sondern auch hinsichtlich seines Vermarktungsmodells: Es ist kein Trading Card Game wie „Magic“, sondern etwas, wasFantasy Flight Living Card Game nennt und der erwachseneren Zielgruppe wohl eher angemessen sein dürfte. Dabei kaufen die Spieler ein fixes Set bestimmter Karten und stellen daraus ihr Deck zusammen – der Zufallsfaktor von „Magic“ fällt weg. Dass Fantasy Flight (oder im deutschsprachigen Raum der Lizenznehmer Heidelberger) trotzdem kontinuierlich Geld damit verdient, liegt daran, dass der Verlag Monat für Monat neue Erweiterungen herausbringt, die ganz neue Spielverläufe eröffnen.

„Netrunner“ kann man damit als herausragend designtes Spiel mit vielen Varianten und Winkelzügen jedem Spieler empfehlen, der von modernen Kartenspielen fasziniert ist und sich von dem Science-Fiction-Setting nicht abschrecken lässt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2014)

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