Inder, ärgere Dich nicht

„Mensch ärgere Dich nicht“ wird hundert – oder nicht? Von der Geschichte eines Spiels, das über Jahrhunderte von Indien aus bis nach München gewandert ist.

Man muss Jubiläen feiern, wie sie fallen – und darum beschäftigen wir uns heute mit „Mensch ärgere Dich nicht“, dem diese Woche in zahlreichen deutschsprachigen Medien wegen seines 100-Jahr-Jubiläums gehuldigt wurde. Zu Unrecht, wie man etwas pedantisch anmerken könnte, denn die ultimative Instanz in Sachen deutsche Spiele, Erwin Gloneggers „Spiele-Buch“, verzeichnet als Erscheinungsjahr für das „meistgespielte Laufspiel in Deutschland“ bereits das Jahr 1910.

Aber was will man groß korrigieren, ist doch auch 1914 ein „Mensch ärgere Dich nicht“-relevantes Datum: In diesem Jahr ging der Autor des Spiels, der Münchener Josef Friedrich Schmidt, Gründer des seit 1897 in Berlin stationierten Verlags Schmidt Spiele, mit seinem größten Erfolg in die Massenproduktion. Den Ersten Weltkrieg nutzte Schmidt beim Marketing seines Produkts: Er schickte mehrere tausend Exemplare von „Mensch ärgere Dich nicht“ an Lazarette, um so den Grundstein für die Mundpropaganda zu legen, die für den Erfolg des Spiels sorgte. Bis heute schätzt Schmidt Spiele, dass mehr als 90 Millionen Exemplare von „Mensch ärgere Dich nicht“ verkauft worden sind – wozu nicht zuletzt beigetragen haben dürfte, dass es in praktisch jeder Familienspielsammlung zum Pflichtinhalt zählt.

Zu den Erfolgsrezepten von „Mensch ärgere Dich nicht“ zählt vor allem die Einfachheit des Materials: ein quadratisches Brett, ein Würfel, 16 Spielfiguren – das ist alles. Die Originalvariante des Spielbretts war auf der Rückseite noch mit einer sternförmigen Sechs-Spieler-Variante bedruckt, die aber heute (aus Kostengründen in der Herstellung) nur selten in Sets verkauft wird. Eine andere Facette des Erfolgskonzepts sind die – im wahrsten Sinn des Wortes – kinderleichten Regeln, die (behaftet mit starkem Glücksfaktor) den Einstieg erleichtern und schnell zu Erfolgserlebnissen führen.

Tatsächlich sind Jubiläumsfeierlichkeiten für „Mensch ärgere Dich nicht“ aber ohnehin hochgradig absurd. Denn in Wirklichkeit beginnt die Geschichte dieses Spieles viele hundert Jahre in der Vergangenheit – und viele tausend Kilometer von München entfernt, in Indien.

Pachisi heißt das Spiel, von dem sich das Prinzip von „Mensch ärgere Dich nicht“ und vielen anderen, ähnlichen Laufspielen ableitet: Ein kreuzförmiger Spielplan und vier Spieler, die versuchen, ihre Spielsteine in einem Rundlauf um den Spielplan zu bewegen, ohne von jenen der Mitspieler geschlagen zu werden.

Wann und wo genau in Indien Pachisi entstanden ist, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren: Historiker verweisen schon auf chinesische Erzählungen aus dem dritten Jahrhundert, die von einem indischen Spiel berichten, das nach China importiert wurde. Definitiv in der westlichen Wissenschaft dokumentiert worden ist die Existenz von Pachisi erst 1694 in Thomas Hydes Werk „De Ludis Orientalibus“. In dieser Zeit, der Mogulperiode Indiens, ließen indische Fürsten in ihre Paläste große Marmorspielbretter einbauen. Noch heute zählt Pachisi zu den meistgespielten Brettspielen der Welt, in Indien wird es meist auf Plänen aus Stoff gespielt.

Das Spielfeld von Pachisi gleicht fast genau jenem von „Mensch ärgere Dich nicht“ –nur dass alle Spielfiguren in der Mitte des Kreuzes starten und über die mittleren Felder in den „Armen“ (wo sich beim deutschen Pendant die Zielfelder befinden) nach außen bzw. nach innen marschieren: Der Start ist zugleich auch das Zielfeld, das es nach getaner Umrundung des Kreuzes wieder zu erreichen gilt. Manche Felder sind zudem als Festungen markiert.

Gewürfelt wurde bei Pachisi ursprünglich mit Kaurimuscheln: Diese wurden in die Luft geworfen, die Augenzahl ergibt sich aus den Muscheln, bei denen die Öffnung nach unten liegt. Der beste Wurf, also wenn gar keine Öffnung zu sehen ist, erlaubt, 25 Felder zu fahren; die Zahl 25 heißt auf Hindi pachisi, daher der Name des Spiels.

Sonst ist das Spielprinzip fast gleich: Die Spielsteine ziehen Feld für Feld in Richtung Ziel, trifft einer auf den eines anderen, wird dieser geschlagen und muss zurück zum Start (außer auf den Festungsfeldern, wo er geschützt ist). Etwas mehr taktische Tiefe bekommt Pachisi dadurch, dass jeweils zwei der vier Spieler zusammenspielen – dadurch werden die Entscheidungen, mit welchen Steinen man in welchem Zug zieht, relevanter.

Eine schöne Theorie zum Ursprung von Pachisi findet der ungarische Spielehistoriker András Lukácsy in der Religion (zitiert nach Glonegger): „Das Spiel ist auch eine Darstellung, ein Bild des Menschen von seiner Welt, wo die Figuren aus einem Zentrum ausgehen (geboren werden), um die Welt in östlicher, südlicher, westlicher, nördlicher Richtung zu umfahren und schließlich, im glücklichen Fall, ohne Not, an den Ausgangspunkt, den Geburtsplatz, zurückzugelangen.“

Eine Studie der Reinkarnation

Und weiter: „Wenn die den Menschen symbolisierende Figur unterwegs eine Unbill trifft (geschlagen wird), also stirbt, muss sie wiedergeboren werden, um in das Endziel zu kommen, wo es kein Auferstehen mehr gibt. In diesem Spiel ist also nicht nur das Schema des urtümlichen Weltbildes mit seinen Himmelsrichtungen enthalten, sondern auch der Gedanke der Reinkarnation.“

Pachisi blieb aber nicht auf Indien beschränkt, sondern fand überall auf der Welt Nachahmer: In den USA entstand im 19. Jahrhundert Parcheesi, dessen Spielplan schon recht deutlich dem des „Mensch ärgere Dich nicht“-Bretts entspricht – das Pachisi-Kreuz wurde hier durch vier Startfelder in den Zwischenräumen ersetzt, die Mitte diente nur noch als Ziel.

Der unmittelbare Vorläufer, der Schmidt zu seiner Erfindung inspiriert haben dürfte, kommt aber aus Großbritannien: 1890 erschien dort eine stark vereinfachte Variante unter dem Titel Ludo: Weder gab es zwei Teams (jeder der zwei bis vier Spieler spielt für sich allein) noch besonders gesicherte Felder – die einzige Raffinesse von Pachisi, die hier noch ihr Echo fand, war, dass zwei Figuren derselben Farbe, die auf demselben Feld landeten, forthin zusammen ziehen durften (aber auch zusammen geschlagen werden konnten).

Josef Friedrich Schmidts Verdienst war es, auch diese Regel zu entfernen – und, zumindest marketingtechnisch, eine große Leistung, sein Werk mit dem genialen Titel „Mensch ärgere Dich nicht“ zu versehen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2014)

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