Über Nacht ins Café

Was tun, wenn man in Japan keine Unterkunft findet? Wenn man ungestört im Netz surfen, Spiele zocken und die neuesten Filme schauen möchte? Oder nackte Haut sehen will? Alle Bedürfnisse führen zum selben Ort: in ein Media-Café in Osaka.

An einem langen Abend in Osaka kommt irgendwann die Verzweiflung. Es ist Feiertag und Freitag, Menschen in Aufruhr, die Metropole wimmelt vor Aktivität. Als die Zeit gekommen ist, ein Bett zu finden, stellt sich die Suche als Odyssee heraus. Neben Luxus- und Businesshotels gibt es Hostels, die japanischen Herbergen Ryokans, Stundenhotels für Paare und eine mittlerweile weltbekannte Erfindung der Stadt, die Kapselhotels. Nur überall heißt es: Alle Betten belegt.

Aber dann: In einer Fußgängerzone im Zentrum ragt zwischen den Häuserwänden und Türen ein kleines Schild hervor, das verspricht: „24 Stunden geöffnet. Media-Café für Herren.“ Die Bilder daneben sind verheißungsvoll, jedenfalls den Umständen entsprechend. Einzelkabinen, Liegen, mit Bildschirmen, es sieht nach Privatsphäre aus. Wonach sollte man hier noch fragen? Die Suche: abgeschlossen.

Nur, was ist das überhaupt, ein Media-Café? Es sieht nach Spaß und Spiel aus: Unten warb das Schild mit Internet, Gaming, Videos. Ein visuelles Spektakel jede Nacht? Im wackligen Aufzug deutet eine halb nackte Frau auf einem Poster schon an, was einen in diesem schmalen Gebäude noch erwartet. Oben, im sechsten Stock, wird es wahr. Größtenteils. Aber egal, ein Schlafplatz wird es ja sein. „Wie lange wollen Sie bleiben?“, fragt eine Stimme, deren Gesicht nicht zu sehen ist. An der Kassa, nur zwei Meter von der Aufzugstür entfernt, sind bloß Hände zu sehen. Der Rest ist verdeckt. Ein halbseidenes Geschäft? Oder ist alles einfach zu unangenehm – für alle Beteiligten? „Eine Stunde kostet 500 Yen (Anm.: rund 3,50 Euro)“, sagt eine freundliche Altherrenstimme, eine faltige Faust streckt sich schon einmal vorsichtig zur offenen Hand. „Wenn Sie die ganze Nacht bleiben, sind es bitte 2000 Yen.“

Das Angebot ist zu gut, um es auszuschlagen. Eine Einzelkabine, also quasi ein Bett, obendrein mit Unterhaltungsprogramm, für gut 14 Euro? Die Scheine liegen sofort in der faltigen Hand. Sechs Zimmerkategorien sind im Angebot: ein Sessel, eine Liege, eine angewinkelte Pritsche und Ähnliches mehr. Die Liege, die auf dem Bild an der Kassa wie ein Bett aussieht, ist nicht mehr verfügbar. Nur die angewinkelte Variante ist noch zu haben. Und jetzt? „Sie dürfen sich bis zu sieben Filme ausleihen. Rechts um die Ecke liegen Mangahefte und andere Magazine. Willkommen!“ Für einen Aufpreis gebe es eine Spielkonsole fürs Zimmer.

Vor den Regalen voller Illustrierten wimmelt es vor jungen Männern. Sie blättern in Mangamagazinen, daneben strecken Frauen auf Coverseiten ihre Brüste vor, ein paar Reihen weiter Computermagazine. Auf der anderen Seite eine Galerie von Spielzeugen. Es geht nicht nur um Sex, aber vor allem. Plastikvaginas, stimulierendes Gel, Kondome. Daneben stehen Münzautomaten. An einem lässt sich mit etwas Glück die richtige Plastikfigur des Helden aus einer Animeserie erwischen. Im anderen liegt in Plastikkugeln verpackte, angeblich von den darauf abgebildeten Frauen getragene Unterwäsche: 1000 Yen, für ein Fetisch wohl kein hoher Preis.

So langsam wird klar, warum es sich hier um ein Media-Café „für Männer“ handelt. Anderswo gibt es sie auch unisex. Jede größere Stadt Japans hat diese Etablissements, gut besucht sind sie immer. Ein Grund für ihren Erfolg ist die Baustruktur japanischer Wohnungen: Die Wände sind dünn, Privatsphäre ist dadurch rar. Außerdem sind vielfältige visuelle Unterhaltungsangebote in Japan sowieso erfolgversprechend.

Nicht nur um die unzähligen Pornofilme, die von großen Brüsten, Schulmädchen, älteren Damen, Übergewicht, verspeisten Exkrementen, Orgien, Sadomaso bis zu Sex im Freien scheinbar alles bieten, tummeln sich die Kunden, Männer aller Generationen. Auch Komödien, Aufnahmen legendärer Fußball- und Baseballspiele auf DVD und Fernsehserien können hier noch einmal gesehen werden. Und alle Computer sind mit dem Internet verbunden. Die Jüngeren kommen auch gern her, um Onlinespiele zu zocken. Daheim, bei den Eltern, sei das nicht immer gern gesehen.

Als der Korb mit Videos gefüllt ist, öffnet sich eine elektronische Schiebetür. Zwei parallele Gänge gibt es, über 30 kleine Kammern, alle ohne Fenster, aber mit Klimaanlage. Die Transitbleiben sind kaum größer als sechs Quadratmeter, aber tatsächlich ist alles da: ein Flachbildfernseher, ein Computer, eine Stereoanlage mit Kopfhörern. Neben der Pritsche liegen Hygienetücher bereit, auf der anderen Seite steht ein Papierkorb. Dass auch hier die Wände dünn sind, stört nicht. Es herrscht Anonymität. Wer sich auf dem Gang begegnet, schaut weg.

All-inclusive auf Japanisch

Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um zu verstehen, wie sich diese Media-Cafés so über Japan ausbreiten konnten. „Wir bieten ja alles“, wird ein Mitarbeiter ein paar Stunden später, am nächsten Morgen, erklären. „Man kann privat sein, sexuell, verspielt, man kann chatten, soziale Medien nutzen, Videospiele spielen. Oder einfach schlafen. Keiner fragt nach.“ In der Tat: Der Eingang ist dezent, der Schritt zum Aufzug allein verrät noch nicht, dass es in den sechsten Stock ins Media-Café geht.

Nur eine Sache bietet der Laden nicht so richtig: Komfort. Als die Filme geschaut sind, das Internet auch nicht mehr interessant ist, offenbart sich: Eine Decke gibt es nicht, die Luft wird schnell stickig. Und die Pritsche fühlt sich nach einiger Zeit ziemlich hart an. Nicht gerade der beste Schlaf des Lebens, aber irgendwie geht es. Immerhin, am Vormittag, auf die Minute genau, klingelt das Telefon an der Wand: „Sie wollten geweckt werden. Guten Morgen!“

Auf dem Gang, noch hinter der elektronischen Schiebetür, die zum Ausgang und zur Kassa führt, wird wieder alles Mögliche angeboten, was man am nächsten Morgen brauchen könnte: Zahnbürsten, Haargel, Krawatten, Einweghemden, Kaffee aus dem Automaten, auch eine Dusche, für 200 Yen extra. Auf dem Weg zur Duschkabine raschelt es. Ein junger Mann hält eine Animefigur in seiner Hand. Jetzt will er noch aus dem anderen Automaten eine Plastikkugel holen. Der weiße Slip der lockigen Frau mit den langen Beinen scheint ihn zu interessieren. Er grinst verlegen, als er sich ertappt fühlt. Vergangene Nacht habe er im Internet darüber gelesen. Angeblich seien die Slips gar nicht getragen. Jetzt müsse er es wissen. Nur so zum Spaß, natürlich. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2014)

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