Orion im Sechseck

Wolfgang Petersens „Twilight Imperium“ ist das wahrscheinlich kompletteste Brettspiel über-haupt. Von einem Spiel, das aus der 4X-Formel ein „Catan“ für Erwachsene geschaffen hat.

Was für ein Monstrum von einem Spiel! Es ist halb drei Uhr früh, die erste Testrunde von „Twilight Imperium“ dauert bereits achteinhalb Stunden, und ein Ende ist noch nicht einmal ansatzweise in Sicht. Gerade einmal drei Siegpunkte verzeichnen die am weitesten fortgeschrittenen Spieler bisher – von zehn nötigen, um die Galaxis zu beherrschen. Hätte die Spieler an dieser Stelle nicht die Kraft verlassen, hätte die Runde sicher noch einmal vier, fünf Stunden gedauert.

„Twilight Imperium“ ist das erste Werk des an dieser Stelle schon mehrmals erwähnten Fantasy-Flight-Verlags, inzwischen in dritter Auflage erschienen und möglicherweise der Höhepunkt der zeitgenössischen US-Brettspielkultur: Autor Christian T. Petersen, gleichzeitig Gründer und CEO des Verlags aus Minnesota, hat mit dem Spiel das klassische 4X-Genre, ursprünglich eine Gattung der Computerstrategiespiele, zu einer Art „Siedler von Catan“ für Erwachsene destilliert – und so eines der umfassendsten analogen Spiele überhaupt geschaffen: Von Krieg über Politik, Handel, Verrat und Teamarbeit findet sich fast jedes nur erdenkliche Spielprinzip in „Twilight Imperium“ wieder.

Aber ganz von Anfang an: Das 4X-Genre geht, wie so vieles, auf Sid Meiers PC-„Civilization“ (1991) zurück, jenes Spiel, bei dem der Spieler eine Kultur aus der Frühzeit 4000 vor Christus bis ins Weltraumzeitalter führt. Dass dessen Prinzip sich auch ausgezeichnet von der Menschheitsgeschichte in den Sci-Fi-Weltraum verlegen ließ, entdeckte Meiers Unternehmen Microprose 1993, als das prägende „Master of Orion“ erschien: In einer zufällig generierten Galaxie repräsentierten die Spieler unterschiedliche Spezies, die um die Vorherrschaft streiten. Die diplomatisch talentierten Menschen, wissenschaftlich begabte, aber schwache Aliens, hochproduktive Insektoide und andere Archetypen treten hier auf, um neue Sonnensysteme zu erkunden („eXplore“), Kolonieschiffe zu fernen Planeten zu schicken („eXpand“) und mit den dortigen Ressourcen Flotten von Kriegsraumschiffen zu bauen („eXploit“). Das Ganze kulminiert dann in der Regel in einem galaktischen Krieg („eXterminate“).

Während sie auf den PCs der 1990er-Jahre ihre größten Erfolge gefeiert hat, ist die 4X-Formel keineswegs auf die digitale Welt beschränkt – im Gegenteil, „Civilization“ leitete sich ja von dem 1980 von dem Briten Francis Tresham ersonnenen gleichnamigen Brettspiel ab. Treshams Verlag, Hartland Trefoil, wurde 1981 von Avalon Hill, dem amerikanischen Spieleverlag schlechthin, gekauft – mit Serien wie „Axis and Allies“ wohl der wichtigste Repräsentant der US-Spielekultur, die sich weniger an dem Spiel-„Flow“ als an dem Gedanken einer möglichst realistischen Simulation orientiert.

Hier schließt sich der Kreis: In seinen Designnotizen zu „Twilight Imperium“ bezieht sich Petersen auf das Erbe von Avalon Hill als eine von zwei Inspirationsquellen. Die andere sind die German Games, deren Kult in Amerika Ende der 1990er gerade Fuß zu fassen begann. Die größte Leistung von Petersens Spiel ist es, diese beiden Konzepte zu integrieren. „Twilight Imperium“ zeichnet einerseits sehr schön das Thema der Weltraum-4X-Simulationen nach: Mehrere Spezies mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen ringen um die Herrschaft über die Galaxis. Andererseits übernimmt das Spiel praktisch alle Mechanismen, die die German Games der vergangenen Jahrzehnte so beliebt gemacht haben: Die zufällige Erstellung des Spielplans aus sechseckigen Feldern von „Catan“, die asymmetrischen Spielerstrategien von „El Grande“, die flexible Zugreihenfolge von „Puerto Rico“ – sie alle finden in „Twilight Imperium“ zu einem herrlichen Ganzen zusammen, das sechs Spieler ermöglicht, auf unterschiedlichste Art und Weise die Galaxis zu erobern.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die Regeln im Ganzen zu erklären– wer „Twilight Imperium“ ausprobieren möchte, sollte Mitspielern ans Herz legen, die Regeln (gratis zum Download auf der Fantasy-Flight-Website) vorab zu studieren. Nur so viel: Jeder Spieler startet mit einer von zehn zufällig ausgewählten Spezies auf seinem Heimatplaneten in einem äußeren Winkel der Galaxie. In ihrem Inneren liegen jungfräuliche Planeten, die nur der Besiedelung harren, Asteroidenfelder und Nebel, Wurmlöcher und Supernovae. Und Entscheidungen, so viele Entscheidungen.

Politik, Krieg oder beides?

4X-Spiele sind (wie fast alle Strategiespiele) eine Abwägung, welche von verschiedenen Handlungsmöglichkeiten der Spieler angesichts seiner begrenzten Ressourcen nutzt. Und Möglichkeiten (und Ressourcen) gibt es viele: Nutzt man die Mineralien der besiedelten Planeten, um eine gewaltige Raumflotte zu bauen, oder doch lieber, um Verteidigungsstationen zu errichten? Tritt man mit anderen Spielern in Verhandlungen, oder versucht man durch gegenseitigen Handel Abhängigkeiten zu schaffen, die einen Krieg zu einer wirtschaftlichen Bedrohung machen? Setzt man auf Forschung, auf Politik, oder versucht man einfach, unauffällig zu bleiben, sodass die anderen Spieler übereinander herfallen, während man selbst die Siegesbedingungen erfüllt? Oder spart man seine Ressourcen lang genug auf, um gegen Ende in einem Zug jede Opposition zu zermalmen?

Es gibt nur wenige Spiele, deren Mechanismen wie bei „Twilight Imperium“ so sehr mit ihrem Thema und den sozialen Elementen des Geschehens verzahnt sind. In einem Eck des Spielplans können sich zwei Spieler stundenlang wegen eines unbedeutenden Grenzstreits in den Haaren liegen, während der Rest der Galaxis darüber verhandelt, wer den reichsten Planeten, Mercatol Rex, im Zentrum des Spielfeldes kontrollieren soll. Unterdessen kann der galaktische Rat Handelssanktionen verhängen oder neue gemeinsame Ziele setzen, die die Grundregeln des Spiels fundamental verändern.

Der Nachteil, wie eingangs erwähnt: So herrlich das Spiel läuft – es dauert, besonders bei ungeübten Mitspielern, ewig. Sechs Stunden sollte man wohl als Minimum einplanen, und noch dazu braucht es sechs Spieler (abgespeckte Varianten sehen zwar auch zwischen drei und fünf vor, wirklich gemacht sind die Regeln dafür aber nicht), die bereit sind, das Spiel während der ganzen Dauer ernst zu nehmen.

Wer eine solche Gruppe kennt, der sollte „Twilight Imperium“ ausprobieren – es ist ein Erlebnis. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2014)

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