Warum die Dame keine Dame ist

Ist Schach ein Spiel – oder doch eher ein Denksport? Wo ist die Grenze zwischen Ernst und Spiel, zwischen Spielsucht und Spielfreude? Fragen, gestellt auf dem „Board Games Studies Colloquium“ in St.Pölten.

Es ist vielleicht eine der kleinsten akademischen Gemeinschaften der Welt – die Riege der Brettspielforscher. Aus immerhin 16 Nationen sind sie zum jährlichen „Board Games Studies Colloquium“ gekommen. Im Vorjahr trafen sie sich in Brasilien, heuer – zur Feier des 10. Kolloquiums – in St.Pölten. Insgesamt sind es knappe 40, die einander natürlich seit Jahren bei den Vornamen nennen und deren Ehepartner längst auch zum „Set“ gehören. Universitätsprofessoren, Privatgelehrte, Museumsdirektoren, Spieleerfinder und Sammler.

Und wer glaubt, dass es sich hier um bisweilen liebenswürdig verschrobene Typen handelt, die sich leidenschaftlich über Themen wie „Ist das indische Ashtapada-Spiel ein bloßer Mythos?“ streiten können, der wird dieser Tage in St.Pölten durchaus bestätigt. Die soziale Stellung des Dame- und des Schachspiels erfährt da wissenschaftliche Durchdringung, ebenso die Betrachtungen des arabischen Gelehrten Al Biruni aus dem elften Jahrhundert über das indische Schach oder eine Untersuchung der Universität Fribourg über das Erfolgsgeheimnis von Warri-Spitzenspielern (Warri, hierzulande auch Tris genannt, ist ein uraltes Spiel, bei dem zwei Spieler Steinchen in Mulden verteilen). Dazu ist Professor Jean Reschitzky mit seinen Assistenten sogar bis nach Antigua gefahren, um Feldstudien zu betreiben.

Spiel oder Nichtspiel?

Das aufregendste Thema beim diesjährigen Kolloquium scheint allerdings die simple Frage zu sein: Was ist eigentlich ein Spiel? Schach eigentlich nicht, wirft Dagmar de Cassan von der Wiener Spielakademie provozierend in die Debatte. Denn ein Spiel darf nicht ohne jeden Anflug von Zufall oder zumindest versteckten Informationen auskommen, die sich erst im Spielverlauf offenbaren. Bei Mühle – auch so ein Nichtspiel – kennen die Computer schon jeden besten Zug. Spielen beide Kontrahenten optimal, kommt immer ein Unentschieden heraus. Beim Schach ist man noch nicht so weit, aber viele nehmen an, dass man einmal die prinzipielle Nicht-Gewinnbarkeit des königlichen Spiels mathematisch wird beweisen können. Also kein Spiel.

Genauso wenig, zumindest nach der De-Cassan-Einteilung, ist Tic-Tac-Toe ein Spiel, außer bei Kleinkindern. Der Spielausgang ist perfekt vorhersehbar. Schach ist zwar, wie gesagt, noch nicht so weit, aber nur, weil die Kapazität der natürlichen und elektronischen Gehirne noch nicht ausreicht, um in jeder Situation den optimalen Zug zu eruieren. Schach ist darum eher eine Denksportaufgabe als ein Spiel. Aber das Kriterium der nicht gänzlichen Berechenbarkeit und des Verhandenseins von Zufall oder versteckter Information ist aber nur eines aus dem strengen Katalog, der in St. Pölten als Versuch einer „Topologie der Spiele“ vorgelegt und vom Auditorium vehement kritisiert wurde.

Ein Spiel ist demnach eine Interaktion von mindestens zwei Menschen, kommt ohne Material nicht aus, hat ein klar definiertes Regelwerk, hat ein bestimmtes Ziel, das auch das Ende definiert, kennt einen Anreiz, zu gewinnen, hat keinen Einfluss auf das wirkliche Leben der Spieler und verlangt keine besonderen körperlichen Fähigkeiten. Jedermann fallen da aber sofort sogenannte Spiele ein, die diesem Katalog nicht genügen, vom professionell gespielten Poker bis zum Versteckspiel, das gänzlich ohne Material auskommt.

Das, so Ulrich Schädler vom Schweizer Spielmuseum, würde über den Haufen werfen, was Menschen seit 5000 Jahren als „Spiel“ verstehen. Und insgesamt reagierte das hochrangige Publikum ein wenig so, als würde jemand einem Heavy-Metal-Fanclub erklären, dass Musik nur dann Musik ist, wenn sie mehr Konsonanzen als Dissonanzen aufweist, Belcanto gesungen wird, man den Text verstehen kann und die Musiker Frack tragen.

Dass die Frage aber überhaupt gestellt wird, ist nicht bloß Spielerei. Die Wissenschaft vom Spiel hat ja noch nicht einmal einen Namen, geschweige denn eine allgemein gebräuchliche Nomenklatur. Was ist der Unterschied zwischen Sport und Spiel, zwischen Mathematik und Spiel, zwischen Denksport und Spiel, zwischen Spiel und Ernst? (Beobachten Sie doch einmal das Verhalten eines durchschnittlichen Ehepaares beim Bridgeturnier, nachdem der Sanftmütigere der beiden einen schweren Fehler gemacht hat – was ist das Spiel, was Ernst?)

Suche nach verschollenen Spielen

Auch das „Board Game Colloquium“ ist ja noch eine ganz junge Sache. 1990 hatte Irving Finkel vom British Museum eine Konferenz über antike Brettspiele abgehalten. Der junge Holländer Alex de Voogt schrieb damals an der Universität Leiden an seiner Dissertation im Fach Psychologie. Thema: Das Denken afrikanischer Brettspiel-Meisterspieler. Auf de Voogts Vorhaltung, dass es so viel mehr zum Thema gäbe als nur Antikes und Finkel daher weitere Konferenzen einberufen sollte, antwortete dieser: „Machen Sie es doch selbst.“ Und so kam die Tradition ins Leben, dass sich Mathematiker, Psychologen, Linguisten, Historiker und andere jedes Jahr im Frühling für dreieinhalb Tage treffen, um über chinesische Schachfiguren und das Mühlespiel im alten Rom zu unterhalten, verschollenen Spielen nachzuspüren und längst vergessene wieder auszugraben.

Ein anderer Mittelpunkt, um sich über ihr Fachgebiet auszutauschen, haben diese Forscher aus allen Erdteilen nicht, wenn man vom „Board Games Journal“ absieht, das an eine kleine, aber feine Gemeinde von 400 Insidern geht. Die Wissenschaftsdisziplin hat außer keinem Namen und keiner Nomenklatur auch noch kein Institut. Weltweit, so de Voogt, kenne er kein wissenschaftliches Institut zur Erforschung des Brettspiels.

Die Abgrenzung macht jedenfalls noch Probleme. Sind Computerspiele, die Brettspielen nachgebaut werden, Brettspiele? Ist Decide, ein Diskussions-Gruppenspiel zum Einüben in wissenschaftspolitische Fragen, ein Spiel oder eine pädagogische Übung? Und wo ist der Unterschied zwischen Spielfreude und Spielsucht? Da ist es schon einfacher, sich an Handfestes zu halten, und solches erfährt man beim Kolloquium auf Schritt und Tritt, auch am Buffet und beim Büchertisch. Wussten Sie zum Beispiel, dass der Name des Dame-Spiels mit großer Wahrscheinlichkeit von holländischen Damm-Baumeistern herrührt, die im Mittelalter in Frankreich Sümpfe trocken legten – und dass die Dame im Schachspiel nach dem Hauptstein des Damespiels benannt ist und somit semantisch gar keine starke Frau darstellt? Die Schach-Fanatiker zweifeln diese Deutung des Niederländers Arie van der Stoep allerdings noch ein wenig an, aber was soll's: Schach ist im Grunde genommen ja gar kein Spiel. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2007)

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