Wie aus Eroberern Befreier wurden

Risiko, Klassiker unter den Brettspielen, wird 50. Zur Halbzeit wäre es beinahe aus dem Verkehr gezogen worden – weil es Kinder und Jugend-liche „sittlich zu gefährden“ vermochte.

Knapp bevor die deutsche Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) sich 1985 auch den neuen Medien Videofilm und Videospiel zuwandte, bekam sie von einem Jugendamt einen aufsehenerregenden Prüfungsauftrag. Die ehrwürdige Zensuranstalt, die sich damals eher mit der neuesten „Bravo“-Nummer oder Büchern wie „Die Geschichte der O“ beschäftigte – Letzteres setze sie 1983 auf den Index –, sollte nachprüfen, ob nicht das Brettspiel Risiko die deutsche Jugend gefährde.

Risiko war damals schon ein großer Erfolg auf dem Spielwarenmarkt. Zwischen 1972 und dem Prüfantrag 1982 hatte es sich in Deutschland schon über 60.000-mal verkauft. Eine Indexierung hätte dem Strategiespiel schwer zugesetzt: keine Werbung, kein öffentlich zugängliches Auflegen in den Geschäften. Man hätte dann Risiko nur wie den Hardcore-Porno in den damals aufkommenden Videotheken unter dem Ladentisch erhalten.

Das Spiel hatte es aber auch in sich: Die Welt besteht aus 42 Ländern, die zu Beginn gleichmäßig unter den einzelnen Spielern aufgeteilt werden. Jeder bekommt am Anfang seines Spielzuges Armeen, die er für Eroberungen einsetzen oder für später stationieren kann. Wer ein fremdes Land erobern will, braucht Würfelglück – und tunlichst mehr Armeen als der Gegner. In jeder Runde sollte man zumindest ein fremdes Land erobern, da man dann später mehr Nachschub-Armeen erhält. Jeder Spieler erhält zu Beginn einen Auftrag, den die anderen nicht kennen – und wer als Erster seinen Auftrag erfüllt, hat gewonnen. Und genau diese Aufträge waren das Skandalöse: „Erobern Sie 18 Länder Ihrer Wahl, und besetzen Sie sie mit je zwei Armeen“ stand da. Oder: „Erobern Sie Nordamerika und Afrika.“ Oder: „Vernichten Sie alle schwarzen Armeen.“

Das, so meinte die Bundesprüfstelle, sei „dazu geeignet, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden, weil Krieg und Gewalt verharmlost würden und die spielerische Nachvollziehung von diktatorischem Handeln sich zwangsläufig gegen den Gedanken der Erziehung zum Frieden richtet sowie die Gefahr naheliegt, dass durch das Spiel Angriffskriege positiv bewertet würden“. Was ja irgendwo nicht ganz von der Hand zu weisen war – zumindest, solange es sich um Angriffskriege auf der Risiko-Weltkarte han- delt. Wer die nicht positiv bewertet, wird an dem Spiel tatsächlich wenig Freude haben.

Die Hersteller, die amerikanische Firma Parker, ließ sich das nicht gefallen, und schließlich entschied das Verwaltungsgericht Köln, dass Risiko moralisch unbedenklich sei – denn für tatsächliche Kriegsverherrlichung sei das Spiel zu abstrakt. Parker ging aber auf Nummer sicher und änderte die Diktion. Nunmehr muss man, um zu gewinnen, Länder oder Kontinente nicht mehr „erobern“, sondern „befreien“. Und statt die Streitkräfte anderer Spieler zu „vernichten“, bekam man jetzt den Auftrag, „die Welt von den schwarzen Armeen zu befreien“.

Damit war die Narretei perfekt: Die Bundesprüfstelle hat seitdem Risiko nicht mehr zum Prüfungsgegenstand gemacht. Aber Beobachter von links und rechts höhnten das Ergebnis. Denn was ist Verharmlosender, als einen Angriffskrieg als Befreiungstat hinzustellen, sagten die linken Kriegsgegner. Genau, antworteten die Rechten: Das sei exakt dieselbe Diktion, wie sie die Sowjetunion in ihrer Propaganda anwende. Und besonders schön sei in diesem Zusammenhang der neu formulierte Auftrag: „Befreien Sie 18 Länder Ihrer Wahl, und besetzen Sie sie mit jeweils mindestens zwei Armeen.“

Wie auch immer: Heuer werden es 25 Jahre, dass Risiko vor die Zensur zitiert wurde – und die Aufträge sprechen noch immer vom Befreien. Aber nur im deutschen Sprachraum, anderswo ist man weniger zimperlich. Schon als der Klassiker der Strategiespiele vor 50 Jahren in seiner ersten kommerziellen Version auf den Markt kam, hieß er ganz eindeutig La Conquête du Monde. Erfinder war der französische Regisseur Albert Lamorisse, der gleichzeitig mit dem Ur-Risiko sein bekanntestes cineastisches Werk herausgebracht hatte: „Le Ballon Rouge“, einen märchenhaften 36-Minuten-Film für Kinder (Goldene Palme 1956, Oscar für bestes Originaldrehbuch 1957) – die Inspiration für den soeben in Cannes präsentierten „Le Voyage du Ballon Rouge“ von Hou Hsiao Hsien mit Juliette Binoche.

Ein Freund Lamorisses war Jean-René Vernes, Philosoph, Bridgemeister (den Experten wegen seines „Law of Total Tricks“ kennen) und Spieleautor: 1955 hatte er im traditionsreichen französischen Spieleverlag Miro Rome et Carthage herausgebracht, ein laut Spielesammlern zu Unrecht vergessenes Meisterwerk. Vernes überarbeitete La Conquête du Monde, und Miro brachte es 1957 als Risk auf den Markt. Gleich gab es – parallel zu Hollywood und dem Roten Ballon – einen Oscar de Jeux für Risk in Paris. Der amerikanische Partner von Miro, Parker, übernahm das Spiel für den amerikanischen Markt, wo es 1959 mit großem Erfolg erschien, 1961 kam dann die erste deutsche Ausgabe. Die Regeln haben sich seither nur geringfügig geändert. Ursprünglich gab es für alle nur einen einzigen Auftrag: die ganze Welt zu erobern, sodass man am Ende der einzige überlebende Spieler ist. Die Alternativvariante, der „geheime Auftrag“, kam erst später – in Amerika sogar erst 1993. Die „secret missions“ sprechen dort natürlich von „conquer“ und sogar von „kill“.

German Games sind harmloser

Risiko ist, wie auch andere große Spiele der Wirtschaftswunderjahre, zum Beispiel Cluedo, letztlich in amerikanische Hände gefallen. Die 1936 gegründete Miro ging 1969 an den Frühstücksnahrungskonzern General Mills – der hatte zuvor schon Parker Brothers gekauft und wollte seine Spiele-Division verstärken. 1980 fusionierten Parker und Miro, und wenige Jahre später ging das ganze Konglomerat über mehrere Eigentümer an den US-Spielwarengiganten Hasbro.

Man kann aber durchaus sagen, dass Risiko vom Spieltypus her auch eher in die USA ressortiert. Der Krieg als Spielgegenstand begegnet in Amerika weniger Ressentiments. In Kontinentaleuropa gibt es seit Jahren die Tendenz zu sanfteren, heimeligeren Themen. Da spielt man zwar schon noch gegeneinander, aber man baut Siedlungen, schafft orientalische Gärten, treibt hanseatischen Handel und anderes mehr. „German Games“ ist für solcherlei in den USA bereits ein stehender Begriff geworden. Das heißt nicht, dass Risiko in Mitteleuropa nicht gekauft würde – genauso, wie ja auch German Games in den USA beliebt sind. Risiko ist auch noch nach 50 Jahren das Strategiespiel beiderseits des Atlantiks. Und – und das relativiert doch ein wenig die Zuschreibung der US-Spiele als kriegerischer: Es gibt außer Risiko nur ein einziges anderes nachhaltig erfolgreiches Spiel der Nachkriegszeit, das den Krieg zum Thema hat – Diplomacy, das in den USA entstanden ist, zur Gänze in Europa spielt und auch hier wie dort seine treuen Fans gefunden hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2007)

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