Wie Friedrich Wilhelm Krieg spielte

Zwei deutsche Journalisten zeichnen in einem neuen Buch die Geschichte des Rollenspiels vom Tabletop-Kriegsszenario zur digitalen Vielspielerwelt nach. Ein Auszug.

Der erste Dungeon Master der Geschichte dürfte Georg Leopold Baron von Reiswitz gewesen sein. Der Kriegsrat entwickelt Anfang des 19. Jahrhunderts für Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, ein Kriegsspiel. Die Erfindung besteht aus einer Reihe von Spielfiguren verschiedener Waffengattungen, ferner quadratischen Bodenplatten, die verschiedene Geländeformen wie Berge, Hügel, Wiesen, Wälder, Siedlungen und Flüsse repräsentieren und die man immer wieder neu zusammensetzen kann. Die Utensilien liegen in mehreren Schubladen eines Möbelstücks, das man leicht für eine Kommode halten könnte. Es befindet sich heute gut erhalten im Besitz der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und steht im Schloss Charlottenburg in Berlin.

Die Deckplatte der Spielkommode lässt sich aufklappen und drehen, sodass man ein in 15 mal 18 quadratische Felder unterteiltes Spielfeld erhält. In elf Schubladen der Kommode liegen quadratische Holzbausteine, aus denen sich ein Spielfeld zusammenbauen lässt.

Außerdem ist da noch das Regelwerk, mit dem der König ein „denkwürdiges Schlachttheater“ in „sein Zimmer zaubern“ kann. So preist Reiswitz seine aus Holz, Papier und Metall konstruierte virtuelle Realität 1812 in der Anleitung an. Eine Besonderheit seines Kriegsspiels hat „Dungeons & Dragons“ stärker als alle anderen Details geprägt: Reiswitz' Kriegsspiel sieht neben zwei Spielparteien (zwei bis zehn Mitspieler insgesamt) auch eine dritte Funktion vor: den sogenannten Vertrauten. Er „berechnet und bewertet“ als Spielleiter und Recheninstanz die Auswirkungen der pro Spielrunde getätigten Spielzüge, wie der Kulturwissenschaftler Claus Pias Reiswitz' Regeln zusammenfasst.

In Reiswitz' Kriegsspiel kann in einer Mannschaft ein Oberbefehlshaber mehrere Kommandanten befehligen. Wenn aber ein Blick aufs Spielfeld ergibt, dass der Befehlsfluss unterbrochen ist und die Kommunikation erst wiederhergestellt werden muss, dürfen die Spieler keine Order austauschen – das würde der Situation ihrer Charaktere widersprechen. Außerdem verlangt Reiswitz, dass sich die Mitglieder einer Mannschaft mit kurzen Notizen auf Karten verständigen, damit die Gegenspieler nichts von den internen Absprachen mitbekommen.

Reiswitz arbeitet sehr detaillierte Regeln aus, um bestimmte Abläufe mit reproduzierbaren Ergebnissen zu simulieren. Wie schnell sich bestimmte Einheiten bewegen können, gab Reiswitz für jede Einheit in „Schritt pro Minute“ an – mit speziellen Zirkeln messen die Spieler die Entfernungen auf dem Spielfeld ab. Weitere Einschränkungen: Läuft eine Infanterieeinheit eine Runde lang im Sturmschritt, muss sie sich beim nächsten Zug mindestens eine Gangart langsamer bewegen.

Der Sohn des Kriegsspielerfinders, Georg Leopold von Reiswitz, entwickelt das Spielsystem weiter. Der junge Leutnant Georg Heinrich Rudolf von Reiswitz systematisiert vor allem den Einsatz von Würfeln. Er legt nach Versuchen auf dem Berliner Schießplatz Mittelwerte zur Wirkung von Waffen fest, verfügt in seiner Neuauflage des Kriegsspiels aber auch, dass man den Zufall einbeziehen müsse. Mit einem Würfel werden Abweichungen vom Referenzwert für die Waffenwirkung bestimmt, weil ja Mittelwerte in der Wirklichkeit nie konstant auftreten. In ähnlicher Weise simulieren die meisten Rollenspielsysteme noch heute den Zufall. Auswürfeln müssen die Spieler damals wie heute alles Erdenkliche.

Der junge Reiswitz ist mit seinem Kriegsspiel recht erfolgreich – Friedrich WilhelmIII. spielt es wohl wie schon das Vorgängermodell, sein Sohn Wilhelm I. empfiehlt es und drängt so lange, bis es preußischen Offizieren vor 185 Jahren offiziell als Trainingswerkzeug nahegelegt wird.

Damals, zu Reiswitz' Zeiten, tauchen nur sehr wenige Menschen in Spielwelten ab. Der König von Preußen war da eine Ausnahme. Das „Militär-Wochenblatt“ berichtet 1874 rückblickend, Friedrich Wilhelm III. habe mit Söhnen, Offizieren und Adjutanten oft bis in die Nacht gespielt, sodass „die sonst zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde, 1/2 11 Uhr, weit überschritten“ wurde. Die erfundenen Welten entwickelten offenbar einen derartigen Sog, dass sich die Spieler die Nächte um die Ohren schlugen.

Das Reiswitz'sche Kriegsspiel war ein Trainingsmittel für Militärs. Zwar hatte Friedrich Wilhelm III. so viel Spaß daran, dass er bis tief in die Nacht spielte, aber im Vordergrund stand der Nutzen, nicht das Vergnügen. Kriegsspiele sollten militärische Konflikte simulieren.

„To advance strategical studies“

Diese Prämisse behält das Genre über Jahrzehnte bei. In Großbritannien, in den Vereinigten Staaten – wo immer Konfliktsimulationen auftauchen, kommen sie aus einem militärischen Umfeld und sollen dem intellektuellen Training dienen. In Großbritannien veröffentlichen Ende des 19. Jahrhunderts einige Militärs Konfliktsimulationen (Kosims) nach dem Vorbild des deutschen Kriegsspiels. Die britische „Times“ beschreibt eines dieser Werke 1888 so:

„It is to advance strategical studies, to direct the thoughts of officers to the immense importance of well-devised combinations in a campaign, to do for them much of what the Kriegsspiel has done for the officers of the German army, that Lieutenant Snell has proposed his new war game.“

Das ist exemplarisch für die Kosims dieser Zeit: Sie dienen der Ausbildung von Soldaten, Realitätsnähe ist wichtig.

Ein Beispiel dafür: Der britische Spieleautor Fred T. Jane entwirft 1898 das Marinekriegsspiel „The Naval War Game“. Darüber hinaus veröffentlicht er Jahrbücher mit technischen Details aller weltweit im Einsatz befindlichen Kriegsschiffe – das war die Keimzelle des heute noch aktiven Rüstungsfachverlags Jane's Information Group.

Das Ziel seines Spiels beschreibt Jane so: „The essential idea has been to produce something by which any problems can be worked out with the greatest possible simulation of actuality.“ ■


Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Drachenväter“, in dem die „Spiegel Online“-Autoren Konrad Lischka und Tom Hillenbrand sehr detailliert die Geschichte des Rollenspiels beschreiben. Eine ausführliche Rezension folgt an dieser Stelle.
www.drachenvaeter.org

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

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