Treffer: Zu Gast beim Staatsfeind

Ob er sich da nicht einschalten muss, um glaubwürdig zu bleiben?

Schließlich hat er im Vorfeld mehrfach Verständnis fürrevolutionäre Bewegungen gezeigt, wenn diese versucht hatten, die Gesellschaft auf einen besseren Weg zu bringen. Und nun diese Bitte aus Deutschland: Er möge doch in jenes Gefängnis kommen, in dem sich einige Häftlinge in den Hungerstreik begeben haben. In der Folge ist die Justiz immer wieder in die Schlagzeilen und unter Beschuss geraten.

Ab und zu muss man handeln, befindet der Franzose. Er reicht beim deutschen Justizminister eine Petition ein, ein Gespräch mit einem der Köpfe der Gruppe führen zu dürfen. Kurz darauf reist er, ein älterer, gebrechlicher Herr, nach Baden-Württemberg. Eine heikle Mission, die ihm schon im Vorfeld Kritik beschert. Immerhin will er sich mit einem Aktivisten auseinandersetzen, der als staatszersetzender Verbrecher auf seinen Prozess wartet.

Die Begegnung verläuft für beide Männer enttäuschend. Der Franzose, einer der bekanntesten Denker seiner Generation, versucht sich dem sehr viel jüngeren Gesprächspartner anzunähern. Gleichzeitig macht er unmissverständlich deutlich, dass er die Formen der Gewalt, zu der sein Gegenüber und dessen Mitstreiterinnen und -streiter gegriffen haben, infrage stellt. Seine Haltung stößt auf Ablehnung: Der junge Mann wirkt aggressiv und durch den Hungerstreik geschwächt. Zudem fühlt er sich getäuscht. Hat der Philosoph nicht in einem früheren Interview erklärt, er beobachte in Deutschland Kräfte, die ihm durchaus interessant zu sein scheinen? Diesen Satz hat der Franzose kurz vor seinem Besuch öffentlich widerrufen. Entsprechend erlebt ihn der Angeklagte – der später zu lebenslanger Haft verurteilt werden wird – nicht als Freund, sondern als Richter.

Der Philosoph ist ebenfalls frustriert. Das Treffen hat ihn viele Sympathien gekostet. Sein in einer Pressekonferenz am 4. Dezember 1974 erhobener Vorwurf, die Häftlinge würden in Isolationsfolter gehalten, erweist sich später als Irrtum, der seinen schlechten Augen zuzuschreiben ist: Er war dem Beschuldigten in einemder Besuchszimmer begegnet. Die eigentliche Zelle hat er nie betreten. ■


Wer traf wen? Von wem wurde der Franzose zum Gespräch gedrängt? Wer stand in Deutschland in jenen Jahren an der Spitze der Regierung?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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