Nein, wir sind nicht alle Sieger

In der Möglichkeit einer Nie-derlage liegt die Attraktivität des Gewinnens. Von schlechten Siegern, guten Verlierern und Realitätsverweigerern.

Es dauerte gar nicht lange, nachdem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am vergangenen Sonntag relativ sang- und klanglos ihren spanischen Gegenspielern unterlegen war, bis in zahlreichen einschlägigen Foren und Weblogs, Zeitschriften und Fernsehsendungen, Talkshows und Fanzonen die apologetische Feststellung auftauchte: „Aber wir sind irgendwie trotzdem Europameister – Europameister der Herzen.“ Dieselbe Botschaft hatten in den Wochen zuvor auch türkische, niederländische und, ja, natürlich auch österreichische Medien verbreitet, nachdem „ihre“ Mannschaft ausgeschieden war. Zusätzlich begann im medialen Boulevard der jeweiligen Nationen die Suche nach – oder treffender: die Hexenjagd auf – den Schuldigen an der Niederlage. Symptomatisch für diese Suche zeichneten sich dabei erwartungsgemäß zwei Medien besonders aus: Die U-Bahn-Gratiszeitung Heute in Österreich und das deutsche Massenblatt Bild griffen neben Trainern und Spielern auch die Schiedsrichter jener Partien an, in denen die beiden Teams ihr Ausscheiden besiegelten.

Letztere Vorgangsweise ist eine bekannte und bewährte Methode, mit den eigenen Schwächen und Unpässlichkeiten, die zur Niederlage geführt haben, fertig zu werden: die Schuld auf das Glück des Gegenübers, das eigene Pech oder eben auf Blindheit und Böswilligkeit des unparteiischen Dritten zu schieben – jedenfalls auf einen Bereich, in dem man selbst keinen Einfluss auszuüben vermag. Das hat zwar nicht die beste Optik, gehört aber zum Standardrepertoire schlechter Verlierer, seit es Spiele gibt, die die Welt in Gewinner und weniger erfolgreiche Teilnehmer teilen. Neu ist, dass sich die Verlierer – oder ihre Anhänger – in Szene setzen, als ob sie Gewinner wären. Das geschieht auf einer anderen Ebene als direkt im Spiel: Die einen geben sich als beste Gastgeber, andere als die enthusiastischsten Fans, wieder andere behaupten, die schönsten Spieler zu sein.

Aber bringt das den Sieger nicht bis zu einem gewissen Grad um seinen wohlverdienten Triumph? Sollte nicht allein jene Mannschaft, die als einzige Pokal und Titel errungen hat, das Privileg verdienen, sich als Europameister zu fühlen und zu freuen, während die Mitspieler mit (zumindest) einem weinenden Auge zusehen müssen? Ist nicht die Exklusivität das Besondere an einem Sieg, für das es sich tatsächlich zu kämpfen lohnt? Antoine de Saint-Exupéry formuliert es in seiner „Stadt in der Wüste“ am treffendsten: „Wenn du dich weigerst, die Verantwortung für deine Niederlagen zu übernehmen, wirst du auch nicht für deine Siege verantwortlich sein.“ Die berauschende Süße des Sieges ist bedingt durch die vernichtende Bitterkeit der Niederlage; anders gesagt: Für jeden Sieger muss es enttäuschte Verlierer geben.

Gerade in der Tatsache, dass es in den meisten Spielen nur einen Sieger geben kann, liegt ihr größter pädagogischer Wert. Das klassische Familien-Brettspiel schlechthin bereitet Kinder schon in seinem Titel darauf vor, Fügungen des Schicksals ohne Grimmen und Grollen zu akzeptieren: Mensch, ärgere Dich nicht! Im täglichen Leben begegnen uns immer wieder Situationen, in denen wir anderen unterliegen – sei es aufgrund unserer eigenen mangelnden Fähigkeiten, weil andere besser sind als wir, oder einfach aus Pech (oder Glück, je nachdem). Was könnte Kinder wie Erwachsene besser darauf vorbereiten als die Abhängigkeit von den Launen des Schicksals, dem Rollen und Fallen der Würfel?

Nicht ärgern sollen sich die Verlierer also. Wir alle wünschen uns einen „guten Verlierer“ als Mit- oder Gegenspieler, aber was ist das überhaupt? „Verlieren ist natürlich nie leicht“, erklärt Österreichs Experte für gutes Benehmen, Thomas Schäfer-Elmayer. Bei vielen Spielen, gerade im Breitensport, schlagen die Emotionen hoch; am Ende aus diesem Rausch wieder auszusteigen, über der Situation, über den Emotionen und dem Schwung des Spieles zu stehen falle vielleicht schwer, sei aber essenziell für einen guten Verlierer. Auf keinen Fall dürfe er aggressiv werden und dem Gewinner seinen Sieg vorwerfen, so der Tanzschul-Betreiber – das sei ganz schlechtes Benehmen. Vielmehr gelte es, den Sieger zu beglückwünschen und anzuerkennen, dass er diesmal einfach besser gespielt habe oder mehr Glück, als man selbst gehabt hätte.

Andererseits ist vom Standpunkt guten Benehmens her auch richtig zu Gewinnen nicht leicht: Auf keinen Fall darf der Sieger Salz in die Wunden des Verlierers streuen, ihm seinen Sieg unter die Nase reiben oder vor anderen damit prahlen. Stattdessen sollten echte Gentleman-Spieler dem Unterlegenen fair, ohne jeden Hauch von Herablassung, die Hand schütteln, und ihm für das nächste Mal mehr Glück wünschen. Das kann, gerade wenn der Sieger im Spiel klar überlegen war, auch ihm wehtun: Darauf zu verweisen, dass der Gegner nächstes Mal genauso triumphieren könnte, wenn er nur ein bisschen Glück hätte, schmälert – zumindest im Selbstbild – die eigene Leistung. Viele Spieler wünschen sich daher heimlich einen nicht ganz so guten Verlierer als Gegner, einen, der nach der Niederlagen ein bisschen grantelt, sudert, sich ausredet – einen, dem gegenüber man ohne schlechtes Gewissen erklären kann, wie gut man nicht selbst gespielt hat.

Niederlagen sind Triebfedern

Dass sich viele Spieler, Fans und die Medien langsam von den Stereotypen des Siegers und des Verlierers verabschieden, mag auch Teil einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sein. Am Ende von Kinder-Wettbewerben, wenn es an das Verteilen von Medaillen geht, behaupten die Kampfrichter oft: „Hauptsache, wir haben alle Spaß gehabt; irgendwie sind wir doch alle Sieger!“ Dass sie damit nicht nur den Teilnehmern auf den hinteren Rängen die Enttäuschung, sondern auch den Siegern das Gefühl, etwas Erstrebenswertes erreicht zu haben, nehmen, bedenken sie wohl nicht. Es ist, wie Saint-Exupéry schreibt: Wer sich auf ein Spiel einlässt, das von verschiedensten Faktoren abhängt, manche davon steuerbar, manche zufällig, der übernimmt auch die Verantwortung, sich mit dem Ausgang abzufinden – und im Fall einer Niederlage daraus zu lernen und es besser zu machen. Wer sich der Realität der Niederlagen verweigert und sich als „Sieger, nur anders“ bezeichnet, verhindert damit zwar, übermäßig enttäuscht zu werden, bringt sich aber gleichzeitig um den stärksten Anreiz, die Leistung zu steigern: beim nächsten Mal zu zeigen, dass es besser geht.

Andererseits: Selbst das schlimmste „Wir sind doch alle irgendwie Sieger“ ist immer noch besser, als wenn die Verlierer – oder deren Anhänger – ihre Frustration aggressiv kanalisieren und nach dem Spiel randalierend durch die Straßen ziehen. Und außerdem sind es, um auf den Fußball zurückzukommen, nur selten die Spieler selbst, die sich als Weltmeister der Herzen feiern. Sie sitzen nach einer Niederlage betroppezt auf dem Rasen herum, stieren in die Leere, verzweifeln, weinen, jammern. Und lassen den Siegern ihren Triumph. Wohlverdient. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2008)

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