Ein Star wird entzaubert

Der Schachweltmeister wird wieder im Zweikampf ermittelt. Die gerade laufende WM in Bonn ist keine Werbung dafür. Nach halber Distanz scheint sie entschieden.

Wladimir Kramnik hält es nicht am Brett, auf dem in diesen Tagen der Schachweltmeister ermittelt wird. Eine Stunde und mehr verbringt der Russe während jeder Partie hinter der Bühne – in jenem nicht einsehbaren Winkel seines Ruheraums, in dem sich die Toilette befindet. Beim letzten Titelkampf vor zwei Jahren hat das gleiche Verhalten seinen Gegner fast um den Verstand gebracht. Als Wesselin Topalow damals erfuhr, dass Kramnik während jedes Spiels Dutzende Male das stille Örtchen aufsuchte, glaubte der Bulgare, Kramnik bekomme dort Züge signalisiert. Seit Computer die stärksten Großmeister auskalkulieren, ist diese Angst nicht unberechtigt. Von da an zog Topalow ohne Rücksicht auf eigene Fehler im Eiltempo. So wollte er verhindern, dass Kramnik sich vor seinem jeweils folgenden Zug zurückziehen konnte.

Außerdem legte der Bulgare Protest ein. Als Kramnik daraufhin sein vertraglich zugesichertes Privatklo verschlossen fand, verweigerte er das Weiterspiel. Seine Privatsphäre sei verletzt. Der Skandal wurde noch verschärft, als ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, den Topalow verpflichtet hatte, in der Decke über Kramniks Toilette ein verloren aus der oberen Etage baumelndes Computerkabel aufstöberte. Das Match schrammte knapp am Abbruch vorbei.

Seinen jetzigen WM-Gegner Viswanathan Anand schert anscheinend nicht, was Kramnik in seiner Schmuddelecke treibt. Damit fährt der Inder gut. Er spielt seine überlegene Vorbereitung aus und lockt den Russen in schwer durchschaubare, unbalancierte Stellungen, die diesem nicht liegen. Nach sechs von maximal zwölf Partien in der Bonner Bundeskunsthalle führt Anand 4,5:1,5. Zwei Punkte trennen den 38-Jährigen noch von der Verteidigung seines im Vorjahr in Mexiko eroberten Titels. Schachkenner halten das Match für so gut wie entschieden.

Dabei war im Vorhinein mit einem knappen Verlauf gerechnet worden. Viele Experten hatten jede Festlegung auf einen Favoriten verweigert. Für Anand mochten die etwas größeren Turniererfolge sprechen, doch seinen letzten langen Zweikampf hatte er 1995 bestritten. Gegen Garri Kasparow hielt er damals neun Partien lang stand und verlor am Ende noch mit drei Punkten Unterschied. Kramnik dagegen hat fünf Jahre darauf den Übervater des Schachs besiegt und auch seitdem mehr Zweikampferfahrung gesammelt. Seine Bilanz wurde allerdings oft übertrieben. Ein Qualifikationsmatch gegen Alexei Schirow hatte Kramnik verloren, dennoch wurde er zu Kasparows Herausforderer bestimmt. 2004 verteidigte er den inoffiziellen Titel gegen den Ungarn Peter Leko denkbar knapp. Ein Sieg in der letzten Partie rettete ihm ein Unentschieden. Das Skandalmatch 2006 gegen Topalow gewann der Russe erst im Stechen mit verkürzter Bedenkzeit.

Dass es damals überhaupt zu diesem Duell kam, ist ein Treppenwitz der Schachgeschichte. 1993 hatte Kasparow mit dem Weltschachbund gebrochen, um seine Titelkämpfe in eigener Regie zu vermarkten. Die Funktionäre kürten weiterhin offizielle Weltmeister, allerdings im K.-o.-Modus wie in einem Tennisturnier. Das führte nicht nur zu einer Reihe von Zufallschampions, sondern auch dazu, dass die Öffentlichkeit Kasparow und später seinen Nachfolger als wahre Weltmeister ansah. 2005 zog sich Kasparow – auch aus Frust darüber, dass ihm Kramnik eine Revanche verweigerte – als Führender der Weltrangliste vom Schach zurück und schlug eine Karriere als Politiker ein. Damit wurde der Titelanspruch seines Nachfolgers nahezu wertlos. Der Weltschachbund nutzte die Gunst der Stunde und versammelte die stärksten Spieler der Welt zu einem Turnier. Der souveräne Sieger hieß Topalow.

Nur Kramnik fehlte damals. Doch er hatte in dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Russlands, Alexander Schukow, der auch Vorsitzender des Russischen Schachverbands ist, einen wichtigen Fürsprecher. Schukow setzte beim Weltschachbund für ihn ein Match gegen dessen neuen Weltmeister durch. Der oberste Schachfunktionär Kirsan Iljumschinow ist zugleich Gouverneur einer südrussischen Provinz namens Kalmückien. Sich einem Wunsch des Kreml zu entziehen, konnte sich Iljumschinow politisch nicht leisten. Als der Zweikampf Kramnik–Topalow beschlossen wurde, war die nächste WM bereits nach Mexiko City vergeben und für September 2007 angekündigt. Nach seinem Sieg gegen Topalow war Kramnik nur unter einer Bedingung bereit, dort anzutreten: Dass nämlich der Weltschachbund ihm für den Fall, dass er nicht selbst gewann, einen Titelkampf gegen den Sieger garantierte. Wieder half Schukow im Hintergrund. Die Proteste der anderen Spitzenspieler fielen nicht ins Gewicht.

Mit 25 bereits ganz oben

Anand gewann in Mexiko, Kramnik teilte immerhin den zweiten Platz. Seit Jahren betont er ebenso trotzig wie eigennützig, der wahre Weltmeister könne ausschließlich im Zweikampf ermittelt werden. Dass dies nicht mehr der Dynamik und Ausgeglichenheit der Weltspitze entspricht, in der mindestens acht Spieler einander annähernd ebenbürtig sind, focht den Russen nicht an.

Nun hat er seinen Willen bekommen. Künftig wird sich der Weltmeister wieder alle zwei Jahre einem Herausforderer stellen. Dieser wird in einem Match zwischen dem Sieger des alle zwei Jahre ausgerichteten Weltcups und dem Besten des Grandprix, einer über zwei Jahre gehenden Turnierserie, ermittelt. Statt 56 WM-Partien wie noch voriges Jahr geboten zu bekommen, müssen sich die Schachliebhaber nun mit einem Dutzend Partien begnügen. Oder auch weniger.

„Wenn Kramnik nicht noch die größte Wiederbelebung seit Lazarus gelingt“, wie es der australische Großmeister Ian Rogers ausdrückt, dürfte seine Zeit abgelaufen sein. Nicht dass er mit 33 Jahren zu alt für einen neuen Anlauf wäre. Doch er ist keiner, der sich durchbeißt. Fast alles ist dem Schlacks aus dem Schwarzmeerstädtchen Tuapse zugefallen. Sein einzigartiges Stellungsgefühl ebenso wie sein Titelkampf gegen den bis dahin als unbesiegbar geltenden Kasparow.

Mit 25 war er bereits ganz oben. Nur in der Weltrangliste kam er nicht an Kasparow heran, der weiter die großen Turniere gewann. Als sein Vorgänger das Feld räumte, hinderte Kramnik eine schwere Krankheit daran, die Nummer eins zu werden. Mit 29 wurde ihm damals eine Arthritis diagnostiziert. Er brauchte über ein Jahr, bis er das Leiden im Griff hatte. Während Konkurrenten wie Anand oder Topalow ihr Spiel weiterentwickelten, hat Kramnik seinen früher universellen Stil auf glanzloses, technisches Sicherheitsschach umgestellt.

Was er während der Partien auf der Toilette tut, darüber wird immer noch spekuliert. Im Kollegenkreis hat er gestanden, dass er dort raucht. Doch seiner Frau habe er geschworen, es nicht mehr zu tun. Darum die ganze Geheimnistuerei. ■

Stefan Löffler bloggt zur Schach-WM auf www.schachwm2008.de.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2008)

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