Der verspielte Ingenieur

Ralph H. Baer ist der Erfinder des Heimvideospiels. Jüngst ist er, 92-jährig, in Manchester, New Hampshire, verstorben. Über einen ganz Großen der digitalen Spielkultur, der bis zuletzt in seiner Werkstatt tüftelte.

Einige Jahre lang ist die Geschichte des Computer- und Videospiels an manchen Stellen falsch wiedergegeben worden. Das liegt unter anderem in der Tatsache begründet, dass das Medium mit einem Alter von rund 40 Jahren noch sehr jung ist. Viele wichtige historische Artefakte werden noch nicht als solche wahrgenommen oder unkorrekt zugeordnet. Noch fehlt der zeitliche Abstand, um Begebenheiten, Entdeckungen und Relevanzen der Frühzeit in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren richtig aufzubereiten. Einer dieser Irrtümer betrifft die Erfindung des digitalen Spiels und die damit in Zusammenhang stehende Gründerperson. Die landläufige Annahme ist, dass es Nolan Bushnell sei, Mitgründer des ehemals glamourösen Spielekonzerns Atari und des legendären Spiels „Pong“ im Jahr 1972. Doch das ist nur die halbe – oder besser gesagt nur ein Drittel der Wahrheit.

Ganz zu Beginn war das Computerspiel: Anfang der Sechzigerjahre hat der Technikstudent Steve Russell am MIT an damals sündteuren Universitätscomputern das Weltraum-Actionspiel „Spacewar!“ programmiert. Da Computer auch Anfang der 1970er-Jahre noch sehr exklusiv waren, hatte Nolan Bushnell die Idee, „Spacewar!“ völlig anders zu präsentieren. Also brachte er 1971 das Spiel in Bars und Spielhallen, verpackt in ein schickes Gehäuse. Der Titel hieß „Computer Space“, es war der allererste Videospielautomat. Computer und Bildschirm waren in kurvigem, glitzerndem Metall versteckt. Doch das Spiel war selbst mit seinen vier Bedienknöpfen zu kompliziert für die gängige Bar- und Spielhallenklientel.

Das Spiel floppte. Erst mit „Pong“, dem Nachfolgetitel, den man nur mit einem kleinen Drehregler steuerte, kam für Atari der Erfolg. Doch woher stammte die Inspiration dieses Mal? Nolan Bushnell musste es später selbst zugeben: Die Inspiration war ein Pingpong-Videospiel, erschaffen von einem gewissen Ralph Henry Baer. Dieser wurde 1922 im deutschen Pirmasens geboren; 1938 ist Baer mit seinen Eltern und seiner Schwester vor dem Nazi-Regime in die USA geflohen, wo er zuerst in New York City als Mechaniker sein Geld verdiente. Später wurde er in die U.S.Army eingezogen und verrichtete im Krieg vor allem als technischer Waffenexperte seinen Dienst in Großbritannien. Zurück in den USA begann er, in Chicago Fernsehtechnik zu studieren, und war bald einer der ersten TV-Ingenieure überhaupt. Ralph Baer war Ingenieur mit Leib und Seele und kein Geschäftsmann, er zog Angestelltenverhältnisse der Gründung eines eigenen Unternehmens vor. Wilde Ideen und Erweckungserlebnisse konnten von ihm selbst konzipiert und als Prototypen umgesetzt werden. Ging es aber um eine Produktion, mussten zuerst Vorgesetzte und Vorstandsmitglieder überzeugt werden. Das ist generell schwierig, wenn man nicht bloß Techniker, sondern auch Pionier und Visionär ist. Querdenken und experimentelle Ideen waren für den Angestellten einer Fernsehherstellerfirma und später eines Rüstungszulieferers ganz nett, aber eigentlich unerwünscht. Doch Baer war unbeirrbar in der Verfolgung seiner Ideen. Er hatte bereits in den Fünfzigerjahren den Einfall, die sich rasant verbreitenden TV-Geräte auch anders als nur für das Zusehen zu nutzen. Zunächst wollte davon niemand etwas wissen. Erst Ende der Sechzigerjahre bekam Baer von seinem Arbeitgeber ein kleines Budget, um ein TV-Spiel zu entwickeln.

Baer gestaltete 1968 mit zwei technischen Assistenten die Brown Box, benannt nach dem damals beliebten, dunklen Holzgehäuse, in dem Technik oft versteckt wurde. Mit der Brown Box konnte man unterschiedliche Ballspiele spielen, vorrangig ein Pingpongspiel. Die Brown Box war – wenn auch nie auf dem Markt erschienen – somit die allererste Spielkonsole, und das zu einer Zeit, als die meisten die Idee eines Telespiels noch absurd fanden. Nur die Firma Magnavox, ein TV-Geräte-Hersteller, ließ sich auf das Experiment ein und brachte 1972 die Odyssey, die weltweit erste Heimvideospielkonsole auf den Markt. Es war zu einer Zeit, als sowohl Baers ursprüngliche Idee als auch die dazugehörige Technik bereits veraltet waren. Obwohl Farbdarstellung und Klänge möglich gewesen wären, hatte sich Magnavox aus Kostengründen dagegen entschieden. Baer war zwar froh über die Veröffentlichung der Odyssey, gleichzeitig aber frustriert über deren technische Unzulänglichkeiten. „Ich fand es nicht besonders clever“, meinte Atari-Gründer Bushnell nachträglich, als ihm nachgewiesen wurde, dass er bei einer Präsentation der Odyssey im Frühjahr 1972 anwesend war. Bushnell hatte sich dort ins Gästebuch eingetragen. Er zollt Baer und seiner Erfindung bis heute kaum Respekt für seine Verdienste, obwohl beide einen wichtigen Anteil zur Geschichte des digitalen Spiels beigetragen haben.

Liebenswerter Gründervater

Baer hatte aus Sicht mancher Geschäftsleute wie Bushnell möglicherweise einen Charakterfehler: Baer sprach aus, was er sich dachte. Und er trat in Erscheinung: Er war ein bodenständiger, kreativer Ingenieur, wissensdurstig, schnörkellos und immer an der Sache und nicht an ihrer Vermarktung interessiert. Doch er wollte Anerkennung und ist deshalb – spät, aber doch – aus dem Schatten getreten, in dem leider so viele Techniker und Erfinder Zeit ihres Lebens bleiben. Ihre Rollen nehmen oft Geschäftsleute ein, die Nolan Bushnells und Steve Jobs dieser Welt. Doch Ralph Baer hat verdienterweise doch noch bekommen, was er wollte und wofür er die späten Jahre seines Lebens beständig gekämpft hat: Anerkennung für die aus seiner Sicht wichtigste Erfindung seines Lebens, die Erfindung des Heimvideospiels. Im Unterschied zum Computerspiel und dem Videospielautomaten wird hier bereits vorhandene Technik genutzt, um damit neue Erlebnisse zu ermöglichen. Aus einem passiven Gerät der Unterhaltungselektronik, dem Fernsehgerät, wird ein interaktiver Gegenstand.

Baer hat leider nie eine geeignete Geschäftsperson an seiner Seite gehabt, mit der eine Firmengründung und damit möglicherweise eine größere öffentliche Wahrnehmung seiner Person möglich gewesen wäre. Doch die letzten zehn Jahre seines Lebens, in denen er einige Auszeichnungen und nachhaltige öffentliche Anerkennung erhalten hat, haben das zumindest wettgemacht. „Ich wollte die Sache einfach richtigstellen“, meinte Baer dazu trocken. Die digitale Spielkultur hätte sich keinen liebenswerteren Gründervater wünschen können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015)

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