Supergirl mit Prothese

„Krüppelmädchen“: In Japans popkulturellen Strömungen wie Manga, Anime und Videospiel haben die Heldinnen und Helden oft schwerwiegende körperliche Beeinträchtigungen. Letzter Teil der dreiteiligen Serie über Behinderung in der Kultur: Videospiele.

Als Hisao Nakai seine Runden auf der Tartanbahn läuft, wird er von einem Mädchen mit Prothesen überholt. Hisao keucht, kann nicht mehr. Nach seiner Operation am Herzen ist er noch nicht ganz fit, auch das neue Umfeld auf der Sonderschule für Jugendliche mit Behinderung macht ihm zu schaffen. Aber das schöne Mädchen, das eben an ihm vorbeigerast ist, wird sein Leben noch auf den Kopf stellen: Emi Ibarazaki, schlank, mit zwei hellen Zöpfen, reicht ihm die Hand. Der erste Funke springt über. Wird Hisao es schaffen, ihr Herz zu erobern?

Was nach einer Schnulze klingt, ist der Einstieg eines populären Computerspiels in Japan. „Katawa Shoujo“, was ins Deutsche übersetzt so viel wie „Krüppelmädchen“ heißt, ist eine der neueren Erfindungen aus den in Japan populären Genres der Datingsimulationen. Ziel solcher Spiele ist es, eine Liebesbeziehung mit einem Charakter einzugehen. Viele der gegenwärtig beliebtesten Video- und Computerspiele in Japan funktionieren nach diesem Muster, mittlerweile halten sie auch in Europa und den USA Einzug. Das Besondere an „Katawa Shoujo“: Von den fünf Hauptcharakteren, um deren Herz der Spieler in der Rolle des Hisao Nakai kämpft, haben alle eine Behinderung.

Emi Ibarazaki ist an beiden Beinen amputiert, die anderen Mädchen, auf die Hisao treffen kann, haben entweder nach einem Unfall schwere Hautverbrennungen oder sind blind, gehörlos oder haben nur noch Armstümpfe. Jedes der Mädchen zeichnet sich durch seinen deformierten Körper, seinen Charakter und sein Aussehen aus. Jedes Mädchen lässt sich auf unterschiedliche Art erobern. Hisao muss sich eben auf Emi Ibarazakis Besonderheiten einstellen. „Katawa Shoujo“, das für die Wortwahl des Titels zwar kritisiert, sonst aber in der Branche viel gelobt wurde, ist seit 2012 auf dem japanischen Markt. Seitdem wurde die Innovation des Entwicklerteams von Four Leaf Studios aus Japan in mehrere Sprachen übersetzt. Gewissermaßen gilt das Spiel als Sensation. Dabei ist es nur die logische Folge der japanischen Popkultur, der genau so eine Storyline noch gefehlt hat. Anders als in Europa und den USA, wo sich Comics und Games v.a. um äußerlich bewundernswerte Helden oder liebenswürdige Typen mit bloß kleineren Macken drehen, gibt es in Japan in diversen kulturellen Gattungen, ob Videospiel, Manga oder Anime, eine Vielzahl an Hauptrollen mit auffallenden Behinderungen.

„Katawa Shoujo“ ist zwar die erste Datingsimulation, die Charaktere nutzt, die auf irgendeine Weise eine Behinderung haben. Das Motiv Behinderung an sich gibt es in Videospielen aber schon länger. Das bekannteste Spiel ist „Ghost in the Shell“, das 1997 auf der damals mit 3-D-Elementen grafisch revolutionären Playstation von Sony herausgebracht wurde. Das Shooterspiel war die Adaption der gleichnamigen Reihe aus Anime und Manga, also Zeichentrick und Comic, des bekannten Autors Masamune Shirow. In Japan wurde die Geschichte zu einer Legende und zählt zu den erfolgreichsten Entwicklungen überhaupt.

Hauptcharakter ist der autistische Junge Aoi, der sich aus einer Klinik des japanischen Gesundheitsministeriums über Computer in die Gehirne anderer Menschen einhackt. Aoi sitzt im Rollstuhl und kommuniziert mit der Welt nur indirekt durch eine virtuelle Persönlichkeit: den „lachenden Mann“. Die ganze Serie über sucht die Gesellschaft nach diesem lachenden Mann, denn dieser ist offenbar dabei, einen riesigen Korruptionsskandal zu enthüllen. Erst spät kommt heraus, dass Aoi dieses Genie ist, den in der Rehaklinik nie jemand für voll genommen hat: Er ist der verkannte Held, der die Welt verbessern will.

Auch den Anime- und Mangaerfolg „JoJono Kimyou na Bouken“ (auf Deutsch: „Jojos bizarre Abenteuer“) gab es schon in den 1990er-Jahren als Videospiel. Einer der Hauptcharaktere, der stählerne Jean PierrePolnareff, der während der kämpferischen Episoden der Geschichte eine Verletzung erleidet, kann hier im Rollstuhl gesteuert werden. Im Videospiel im Beat'em'up-Stil, ähnlich wie einst das legendäre „Street Fighter“ auf Super Nintendo, kämpft der Rollstuhlfahrer dann im Duell gegen andere Charaktere, die keine Behinderung haben. Wer Polnareff als Gegner hart erwischt, stößt seinen Rollstuhl um; ein Volltreffer ist es, wenn der Held aus dem Rollstuhl fällt. Ein schwächerer Gegner ist Polnareff ob seiner Behinderung nicht, er setzt seine Fähigkeiten eben anders ein.

Längst nicht alle Videospiele der Szene haben eine tiefere Bedeutung, jedoch einige. Datingsimulationen könnten den Spielern eine Anleitung für das Leben geben, meinen einige Experten. Wie Anime und Manga brechen Videospiele Tabus, die sich in der realen Welt noch halten. Ein Beispiel ist der Umgang mit Homosexualität oder anderen, nicht gleichberechtigt anerkannten Lebensentwürfen und Orientierungen.

Virtuelle Erfahrungen realisieren

Trotz der Prominenz und des großen gesellschaftlichen Interesses hat sich die japanische Popkultur immer wieder als eine Sphäre der Pioniere entpuppt, in der die vom politischen und manchmal auch kulturellen Mainstream vernachlässigten Themen angesprochen werden. So erleben neben Protagonisten mit Behinderungen derzeit etwa auch homosexuelle Charaktere einen Boom. Es sind die Abbilder jener Menschen, die im wahren Leben häufig auf Hürden stoßen.

Eine weitere Facette, die von westlichen Entwicklungen bisher weniger behauptet werden kann: Nicht nur werden japanische Werke in Manga, Anime und Videospielen von viel mehr Menschen konsumiert als im Westen. Die Erfahrungen aus denselben dürften auch häufiger ins tatsächliche Leben transportiert werden. Der Thematisierung von Homosexualität im Manga, wenn auch klare politische Stellungnahmen meist ausbleiben, wird eine befreiende Bedeutung für Schwule und Lesben eingeräumt. So könnten, mutmaßen Experten, die Anerkennung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung gefördert werden.

Wer die Erfahrungen von Hisao Nakai virtuell erlebt, könnte seinen Blick im realen Leben zumindest schärfen. Schließlich sind gerade Japans Datingsimulationen so beliebt, weil sie auf die echte Welt mit echten Menschen vorbereiten. ■


Teil eins, „Helden mit Handicap“, ist im „Spectrum“ vom 8.November erschienen,
Teil zwei, „Bestseller mit Rollstuhl“,
am 13. Dezember.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2015)

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