Zeichnen gegen die Zensur

Vier Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima werden die Gefahren der Radioaktivität von offizieller Seite immer noch vertuscht. Während etablierte Medien unter strenger Beobachtung stehen, mausern sich Manga-Zeichner zu wichtigen Informanten.

Am 11. März 2011 war KazutoTatsuta nicht gut bei Kasse. Seine Versuche als Mangaka, wie die Zeichner japanischer Comics genannt werden, fanden wenig Resonanz. Nur hier und da konnte er ein paar Geschichten über Stripclubs und Baseball veröffentlichen. Nicht gerade die Genres, mit denen man sich Anerkennung verdient. „Das Zeichnen hatte ich schon aufgegeben“, sagt er heute. In der Szene passte Kazuto Tatsuta in das Bild des Gescheiterten: Mitte 40, keine Familie, keine festen Aufträge, nur reichlich glücklose Anläufe.

Bis an jenem Tag zuerst die Erde bebte und kurz darauf 20 Meter hohe Wellen über die Ostküste hereinbrachen. Und an den Tagen nach der Katastrophe vom 11.März, die 20.000 Menschen in den Tod gerissen und Hunderttausenden ihre Häuser genommen hatte, kam es noch schlimmer. An der Küste der Präfektur Fukushima, die bisher für ihre guten Sakebrauereien und die vollen Kirschblüten bekannt gewesen war, schmolzen in einem Atomkraftwerk drei Reaktorkerne. 300.000 Menschen mussten umgesiedelt werden, der Schreck über die größte Umweltkatastrophe der näheren Geschichte wich einer fürchterlichen Panik. 66 Jahre nach den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki erlebte Japan eine neue Nuklearkatastrophe. Bis heute hält sie an.

„Mir war schnell klar, dass ich dahinmusste“, erzählt Kazuto Tatsuta fast genüsslich, lehnt sich tiefer in seinen Stuhl und schlägt ein Bein über das andere, als berichte er von einer Erfolgsstory. Die Miete für sein kleines Büro am südlichen Speckgürtel von Tokio hätte er sonst nie bezahlen können. Neben dem großen Schreibtisch mit zahllosen Pinseln und Stiften, Blättern und zwei grellen Lampen stapeln sich Bücher vor einem Fernseher. Im Schrank bewahrt Tatsuta einen Futon auf. „Oft arbeite ich so lang, dass die letzte Bahn schon abgefahren ist.“

Denn jetzt hat er reichlich Arbeit. Seit fast einem Jahr ist Kazuto Tatsuta, ein sportlicher, unscheinbarer Typ mit Lesebrille, einer der gefragtesten Mangaka in Japan. In der gefeierten Bildergeschichtenserie „Ichi-efu“ versorgt er das Land mit seinen Erfahrungen als Arbeiter auf dem Gelände des mysteriösen Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, zu dem der umstrittene Betreiber Tepco seit vier Jahren den Zugang beschränkt und gemeinsam mit der Regierung systematisch Informationen zurückhält.

Jene Atomruine, aus der täglich Radioaktivität in Grundwasser und Ozean sickern sowie in die Luft steigt, kennt Kazuto Tatsuta von innen. Vielleicht besser als jeder investigative Journalist. Die Japaner reißen sich um die Geschichten. Sie liefern ein Bild aus dem Epizentrum der nationalen Angst, das von Politik, Zeitungen und Fernsehen allzu oft kleingeredet und selbst in vielen Kunstgenres kaum behandelt wird. Ausgerechnet ein Mangaka ist zum geheimen Informanten aus erster Hand geworden, wenn es um die Wahrheiten aus Fukushima Daiichi geht.

„Ichi-efu“, die japanische Abkürzung für das Kraftwerk Fukushima Daiichi, erzählt minutiös aus der Ich-Perspektive das Arbeitsleben von Kazuto Tatsuta nach. Zuerst wartet er wochenlang in der Nähe von Fukushima-Stadt auf seinen Einsatz, 60 Kilometer westlich des Kraftwerks, in einem Sechsquadratmeterzimmer mit drei Hochbetten. Später arbeitet er im Reaktorinneren. „Angst hatte ich nur am Anfang“, sagt Tatsuta heute in seinem kleinen Büro. „Je länger du da drinnen bist, mit all den Kollegen, desto abgeklärter wirst du.“ Genauer wolle er es gar nicht wissen, sagt er etwas leiser.

Bei seiner ersten Rückkehr nach Hause, nach Erreichen der maximalen Strahlendosis, dachte der gescheiterte Zeichner erneut über seine Möglichkeiten als Mangaka nach. Ein günstiger Zeitpunkt. Denn Ende 2013 verabschiedete Japans Premierminister, Shinzo Abe, ein neues Staatsgeheimnisgesetz,das die Regierung berechtigt, diverse Informationen zu klassifizieren. Sowohl Whistleblower als auch Journalisten, die sie dennoch veröffentlichen, können nun zu hohen Gefängnisstrafen verdonnert werden.

Über Monate gingen Bürger auf die Straße, um gegen diesen Eingriff in die Pressefreiheit zu demonstrieren. Ähnlich wie sie gegen die Atomenergie demonstrieren, gegen die bis heute die Mehrheit der Japaner ist. Der Chefposten des öffentlichen Rundfunks, NHK, wurde durch einen Vertrauten Abes besetzt, die meisten Tageszeitungen und TV-Sender sind allein durch das Gesetz eingeschüchtert. In der internationalen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ist Japan seit Abes Amtsantritt Ende 2012 um 37 Plätze abgerutscht.

Tabuthemen in Mangas verpackt

Kazuto Tatsuta fasste sich ein Herz, er wollte es noch einmal versuchen. Als Erstes rief er bei Kodansha an, einem der führenden Verlage Japans. Kenichiro Shinohara, ein Redakteur des führenden Magazins „Morning“, interessierte sich. „Können Sie uns das aufzeichnen, und wir sehen mal drauf?“ Kurz nachdem Tatsuta das Manuskript eingereichthatte, begann Kodansha, vom Material völlig überwältigt, die Veröffentlichung zu planen, und zwar als Serie. Bald wurde Kazuto Tatsuta zum Star der Szene, bekam ungeahnte Honorare ausgezahlt und muss seitdem jeden Tag seine jüngsten Erlebnisse zu Papier bringen.

„Diese Lücke ist wie für Manga gemacht“, sagt Jacqueline Berndt. Die gebürtige Jenaerin ist Professorin für Comictheorie an der Manga-Fakultät der Seika-Universität in Kyoto. „Es gibt eine lange Tradition, Tabuthemen zu zeichnen.“ In den 1970er-Jahren gelangte „Hadashi no Gen“ („Barfuß durch Hiroshima“) zu Berühmtheit, eine Geschichte über den ängstlichen Umgang mit Überlebenden der Atombombe von Hiroshima, die es in den Bildungskanon schaffte.

Laut der Strahlenregulierung darf Kazuto Tatsuta in einem Monat wieder auf das Kraftwerksgelände. Es gebe so viele Bereiche, in denen er noch nicht gearbeitet habe. „Beim Abtransport von schädlichem Material, beim Bau neuer Schutzwände oder im Umgang mit dem verstrahlten Wasser.“ Kenichiro Shinohara vom Verlag Kodansha hat mit Tatsuta schon eine Handvoll neuer Geschichten besprochen, mehrere Bücher sind in Planung. Auch über eine deutsche Übersetzung wird nachgedacht.

Nur selbst kann Kazuto Tatsuta seinen jungen Ruhm nicht recht genießen. Die Arbeiter von Fukushimas Strahlenruine sind zum Schweigen verpflichtet. Wer zu viel redet, kann rausfliegen. Welche bürgerliche Identität sich hinter Kazuto Tatsuta verbirgt, wissen deshalb nicht einmal die besten Freunde des Mangaka. Er wolle niemanden in Gefahr bringen, sagt er, schon wieder ins Zeichnen vertieft. Außerdem dürfe er seinen Job in Fukushima auf keinen Fall verlieren. Jetzt, da die Japaner darauf warten, was er ihnen als Nächstes zeichnen werde. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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