Treffer: Königliches Irrenhaus

Der König betrachtete den Fremden, der abends um sechs Uhr an die Tür geklopft hatte. Eine der Töchter war zur rissigen Holztür gegangen, um nachzusehen. Die Königsfamilie war eine bescheidene, deswegen hatte sie kein Personal, das solche Dinge für sie erledigte. Dieser Fremde hatte sich dann quasi selbst zum Abendmahl eingeladen, und da der König ein höflicher Mann war, wurde der Fremde gebeten, an der Tafel Platz zu nehmen. Er war offensichtlich ausgehungert und ausgetrocknet und schaufelte das Essen blindlings in sich hinein.

Der König hing seinen Gedanken nach, sein Silberlöffel stand mehrmals in der Luft, weil er vergaß, ihn zum Mund zu führen. Außer ihm befanden sich nur Frauen in seinem Haushalt, die Königin lag in ihrer verdunkelten Schlafkammer und klagte über Kopfschmerzen, und die Töchter hatten nichts als Unsinn im Kopf. Schwiegersöhne mussten her, aber in diese abgelegene Gegend verirrte sich selten ein geeigneter Kandidat, und wenn, dann unternahmen die Töchter alles, um den Kandidaten zu vergraulen.

Der Fremde kam leider auch nicht in Frage, allein seine merkwürdige Stimme und Sprechweise waren Hindernisgründe, wer wollte seinen Enkelkindern so ein Handicap in die Wiege legen? Ein Königsschwiegersohn musste eine wohltemperierte, kraftvolle Stimme haben, sanft bei Bedarf, aber auch fähig zur deutlichen Artikulation, wenn er seine Stimme erheben musste, zum Volk etwa. Und nicht so ein krakelndes, quäkendes Organ, das kaum den Inhalt der Worte erahnen ließ. Hatte er nicht gerade ein unverständliches Genuschel vernommen? Ein Aufruhr herrschte plötzlich bei Tisch. Der König biss vor Schreck in den Löffel, sein schlimmer Zahn schickte einen Blitz durch seinen Kopf. Die Töchter murmelten aufgebracht, die jüngste weinte sogar. Der Fremde räusperte sich, wandte sich an den König und sprach mit sichtbarer Anstrengung nun deutlicher: „Sie hat es versprochen!“ Der König, peinlich berührt, antwortete: „Dann muss sie es auch halten!“ Er hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, aber Versprechen mussten gehalten werden.

Die Jüngste lief hinaus, der Fremde sprang auf und ihr nach. Minuten später hörte man einen Knall von oben. Der König seufzte. Ein Irrenhaus war das. ■


Wer traf wen? Was geschah am darauf-
folgenden Tag?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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