Putzen für den Aufstand

Wir sind Reinigungskraft in einer Luxuswohnung irgendwo in Lateinamerika und erleben politisch-militärische Umwälzungen: Der neue Wurf des belgischen Spielentwicklers Tale of Tales setzt auf ein unkonventionelles Setting.

Egal, ob als Hirsch in einem stillen Wald, ob als ältere Dame auf einem Friedhof oder als eines von sechs Mädchen, das die Großmutter im Wald besuchen soll – die Rollen, die man in den Spielen des belgischen Entwicklerduos Auriea Harvey und Michaël Samyn einnimmt, sind immer höchstungewöhnlich. Ihr aktuelles, vor Kurzem veröffentlichtes Spiel, „Sunset“, ist dabei keine Ausnahme: Wir schlüpfen in die Rolle von Angela Burnes, einer afroamerikanischen Ingenieurin, die trotz ihres abgeschlossenen Technikstudiums keinen Job findet, der ihrer Ausbildung gerecht wird, und deshalb als Putzfrau arbeiten muss.

„Sunset“ spielt im Jahr 1972 in der fiktiven Stadt San Bavón in Lateinamerika. Angela putzt in einer bestimmten Wohnung circa alle zehn Tage, jeweils eine Stunde vor Sonnenuntergang, von 17 bis 18 Uhr. Da San Bavón nahe am Äquator liegt, verschiebt sich dieser Termin über das Jahr hinweg kaum. Gabriel Ortega, der reiche Wohnungsbesitzer, ist zunächst nicht mehr als ein Auftraggeber: An unserem ersten Arbeitstag packen wir seine Umzugskartons aus und säubern die Zimmer von den umherliegenden Verpackungen. Auf unserem Merkzettel sind jene Aufgaben notiert, die wir unbedingt erledigen sollen, doch das heißt nicht, dass wir uns nicht auch sonst nützlich machen können.

Manchmal ist es aber einfach nur die Neugierde, die uns durch die lichtdurchflutete, mondäne Wohnung ziehen lässt. Über zwei Stockwerke hinweg hat sich der mysteriöse Gabriel Ortega ein dekadentes Heim eingerichtet, das unter anderem über einen riesigen Wintergarten, ein Spielzimmer und einen Partyraum verfügt. Da wir im ganzen Spiel über nur diese Wohnung und von ihr aus gute Blicke auf die Stadt zu sehen bekommen, haben die Entwickler Harvey und Samyn hohen Wert auf die Details gelegt. Das Paar ist für sein großes Interesse für Literatur, Kunstgeschichte und bildende Kunst bekannt – dementsprechend finden sich in „Sunset“ zahlreiche Referenzen, Titel und Anspielungen wieder, die in ihrer Tiefe weit über jene Darstellungen und Gegenstände hinausgehen, die man in virtuellen Welten üblicherweise vorfindet. Mit jedem neuen Arbeitstag ändert sich der Zustand der Wohnung: Dinge wechseln ihre Standorte, manche verschwinden, andere kommen hinzu, die Stadt draußen sieht jedes Mal ein bisschen anders aus. Angela macht sich stets Gedanken über das Wesen des Mannes, dessen Wohnung sie putzt, und darüber, was hinter den Wänden, in den Straßen von San Bavón, vor sich geht.

Je länger man als Spieler in die visuell und erzählerisch behutsam gestaltete Welt von „Sunset“ eintaucht, desto mehr formt sich ein Bild von dem Menschen, der hier wohnt, und zu den politischen und militärischen Entwicklungen der Stadt. Es ist Revolution, der Frieden ist zusammengebrochen. Angela versteht nicht, was Gabriel noch an diesem Ort hält, hat sie doch mittlerweile mitbekommen, dass er die Möglichkeit offeriert bekommen hat, das Land zu verlassen. Obwohl man Gabriel nie begegnet, werden seine Handlungen und Botschaften dennoch zu Gesten eines Weggefährten. Die Kommunikation auf Distanz geht in beide Richtungen, denn auch wir können durch die Art, wie wir unsere Arbeit verrichten, Nachrichten senden. Das äußert sich etwa darin, in welcher Weise wir eine Reihe von kleineren Bildern an eine Wand hängen: Machen wir uns Gedanken darüber, in welcher Formation wir sie hängen, oder tun wir einfach unsere Arbeit? Bei den meisten Tätigkeiten kann man selbst entscheiden, ob man liebevoll und überlegt an die Sache herangehen oder Dienst nach Vorschrift erledigen will.

Über das Jahr 1972 hinaus und bis ins Jahr 1973 hinein geht die jeweilige Vorgangsweise über die vielen Arbeitstage hinweg nicht unbemerkt an Gabriel Ortega vorbei. Er beginnt nach einer Weile, Botschaften zu schreiben, in denen er uns seine Gedanken mitteilt, und man merkt, dass ihm das Wohlbefinden von Angela ein Anliegen ist. Ob sich sogar so etwas wie Liebe auf Distanz entwickeln kann und wie substanziell und hingebungsvoll diese dann sein kann, bleibt der Vorgehensweise der spielenden Person überlassen – und natürlich der Kreativität der beiden Spielemacher und der Strategie, welche Wendungen und Entwicklungen sie für ihr Werk vorgesehen haben.

Tale of Tales ist eines der wenigen Computerspielstudios, die nun schon seit über einem Jahrzehnt hinweg konsequent die Grenze zwischen Kunst und interaktiver Unterhaltung ausloten. Die Arbeit des Duos Harvey und Samyn ist dabei eine wohlige Abwechslung von gängigen Computerspielszenarien, die zu oft von generischen Figuren und klischeehaften Umgebungen geprägt sind. In jüngster Zeit zeigt sich jedoch, dass die Titel von Tale of Tales spielerisch schon vor Jahren eine neue Gattung ins Leben gerufen haben, die heute oft flapsig als Walking Simulator bezeichnet wird.

Die Aura eines virtuellen Ortes

Entdecken und ergründen steht dabei im Vordergrund. Das Wirken und die Aura eines virtuellen Ortes und die Geschichten und Geheimnisse, die dahinter stehen, denenman nach und nach auf die Spur kommt, machen den Reiz aus. Das zeigt sich etwa in den – auch kommerziell erfolgreichen Spielen „Dear Esther“ (2012) und „Gone Home“ (2013), bei denen man, ebenso wie in „Sunset“, eine menschenleere Welt vorfindet. Doch der Schein trügt, denn die Personen, die in diesen Spielen vorkommen, sind zwar nicht als Figuren sichtbar, werden jedoch durch die verschlungene Erzählung ähnlich lebendig wie bei einem Roman.

Mit der eigenen Imaginationskraft die fehlenden Stellen einfügen ist für das Medium Computerspiel noch ziemlich neu, weil es über Jahrzehnte hinweg so stark von Technik und der visuellen Darstellung geprägt war. Das Reduzieren der Präsentation und das Wegnehmen bestimmter Elemente, um erzählerische und dramaturgische Effekte zu erzielen, ist noch weitgehend unerforscht. Auch wenn es für viele Spieler noch ungewöhnlich sein mag, ein paar Stunden lang durch eine virtuelle Wohnung zu gehen und dort aufzuräumen und zu putzen, sollte man die Wirkung und die Möglichkeiten davon nicht unterschätzen.

Immerhin ist nach rund 40 Jahren das Medium Computerspiel weiterhin in seiner Frühentwicklung. Tale of Tales bricht mit ihren Werken eingefahrene Konventionen auf und hilft so, die Grenzen der Gestaltung von digitalen Spielen zu erweitern. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2015)

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