Faith rennt

Computerspiele werden meist dann kommerziell erfolgreich, wenn sie mit ausreichend Action gespickt sind und Männer schwere Waffen tragen. „Mirror's Edge“ bietet eine erfrischende Alternative: Man schlüpft in die Rolle einer jungen Frau, die sich gängigen Klischees verweigert.

Faith ist nicht die typische Computerspielheldin: Sie hat kurze schwarze Haare, trägt rote Laufschuhe, eine weiße Dreiviertelhose und ein schwarzes Top. Statt Schwerter zu schwingen oder Schusswaffen zu bedienen, läuft und springt sie akrobatisch durch eine Großstadt.

Dieses Setting ist nicht selbstverständlich: Kommerzielle digitale Spiele werden immer noch vorrangig von Männern für Männer gestaltet, und das führt bei weiblichen Spielfiguren nicht selten zu seltsamen Körperproportionen und aufreizenden Outfits, bei denen man die Praktikabilität zu Recht hinterfragen kann. Doch die Frage, ob klischeebeladene weibliche Spielcharaktere mit sehr großer Oberweite und hochhackigen Schuhen schnell Gleichgewichtsprobleme bekommen könnten, wenn sie in die Schlacht ziehen, stellt sich nicht. Immerhin sind wir im Bereich der Fantasie, und dort gelten die Gesetze von physischer Körperlichkeit bekanntlich nicht. Außerdem sind Spielwelten ohnehin fiktionale Rückzugsorte. Thema beendet – zumindest für viele alteingesessene, männliche Computerspielfans. Glücklicherweise wird die Demografie bei Videospielkonsumenten immer durchmischter, und die Rufe nach sowohl vielfältigen Themen und Inhalten als auch nach starken Spielfiguren, mit denen sich Männer und Frauen identifizieren wollen, werden nicht leiser.

Im Bereich der unabhängigen, kleineren Games wird bereits seit einigen Jahren mit unkonventionellen Ideen experimentiert. Doch wenn – wie bei Großproduktionen – hohe Budgets im Spiel sind, gehen die dahinterstehenden Konzerne im Zweifelsfall meist lieber doch auf Nummer sicher. Umso erfreulicher war es, als Ende 2010 „Mirror's Edge“ veröffentlicht wurde. Faith spielt darin die Hauptrolle. Sie ist Untergrundagentin in einem dystopischen Polizeistaat, in dem jegliche Kommunikation über offizielle Kanäle von den staatlichen Autoritäten abgefangen wird (der hochaktuelle politische Seitenhieb war den Spielentwicklern offenbar schon 2008 ein Anliegen). Deshalb engagiert der Widerstand sogenannte Runner, also Boten, die von A nach B laufen, um Nachrichten zu überbringen. Faith ist einer von ihnen. Zwar weiß sie im Notfall auch mit Schusswaffen umzugehen, ihre Hauptwaffe ist jedoch ihr Körper. Neben famosen Nahkampftechniken verfügt Faith vor allem über besondere akrobatische Fähigkeiten. Sie ist eine exzellente Parkour-Läuferin und nutzt Hindernisse wie Steinwände, Stiegen, Leitern oder Rohre, um den schnellsten Weg zum Ziel zu finden und möglichen Feinden in kürzester Zeit zu entwischen. Faith huscht durch Gebäude, hechtet über Hausdächer und rutscht durch enge Durchgänge, dass es nur so eine Freude ist.

Als Spieler steuert man die Heldin aus der Egoperspektive. Die Bewegungen der Figur werden dabei verblüffend glaubhaft dargestellt. Das Laufen und Springen wirkt rasanter, dynamischer und allgemein eindrucksvoller, als es im lautesten Militär-Shooter der Fall sein könnte.
Auch visuell ging „Mirror's Edge“ vor sieben Jahren einen neuen Weg: Statt die virtuelle Umgebung in klassisch-düstere Grau- und Brauntöne zu hüllen, war die repressive Zukunftsstadt hell und von kräftigen Primärfarben geprägt. Der Kontrast zum meist strahlend blauen Himmel war das markante Rot, das sowohl in der Kleidung von Faith zu sehen ist, als auch als optische Hervorhebung bei wichtigen Objekten wie Türen oder Stangen zum Einsatz kommt.

„Mirror's Edge“ hat sich über zwei Millionen Mal verkauft, was für eine Großproduktion zwar keine überragende Zahl, aber zweifellos ein Erfolg ist. Dennoch wurde es einige Jahre still um Faith und ihre Runner-Künste. Das Spiel wurde später in abgespeckter Version für Smartphones veröffentlicht, darüber hinaus gab es aber keinerlei Neuigkeiten. Bis vor Kurzem, denn auf der großen Branchenmesse E3 in Los Angeles wurde vergangene Woche überraschend verkündet, dass das Parkour-Spiel 2016 einen Nachfolger bekommen wird. „Mirror's Edge: Catalyst“ schließt dem ersten Trailer zufolge sowohl spielerisch als auch visuell an das Original an. Die Story rund um das Überwachungsregime, das Dissidenten ausfindig machen will, wird dabei allerdings in den Hintergrund gerückt. Im Zentrum stehen ein weiteres Mal die urbane Großstadtumgebung und die Aktionen der Hauptfigur Faith, deren Erlebnisse und Geschichte diesmal besonders hervorgehoben werden sollen.

Es ist ein gutes Zeichen, dass neben erwartbaren Ankündigungen bei Blockbuster- Videospielen auch Serien wie „Mirror's Edge“ einen prominenten Platz finden. Denn so wichtig Games-Experimente, die auf vielschichtige Inhalte und Darstellungen setzen, im Off-Bereich sind, so wertvoll ist ein Actionspiel aus der Egoperspektive, in dem eine coole, starke Frau die Hauptrolle spielt, im Mainstream.

Wer spielen will, muss fühlen

Das schafft Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit und sorgt dafür, dass sich auch die Mitglieder in den Vorständen der Computerspielkonzerne langsam von der Idee verabschieden, dass Videospiele vorrangig etwas für pubertierende Burschen und Männer mit berechenbaren Bedürfnissen und mangelnder Selbstreflexion seien. Abgesehen davon ist Faith eine virtuelle Heldin, die sich sowohl Frauen als auch Männer gern in den Spind oder an die Wand hängen – gänzlich ohne die Befürchtung, dass man von Uneingeweihten belächelt werden könnte.
Als Buchcover macht sich Faith übrigens auch sehr gut. Das beweist die neueste Ausgabe des deutschsprachigen Games-Kultur-Readers „Wasd“, der in seiner kürzlich erschienenen, siebenten Ausgabe Faith kurzerhand auf das Cover gestellt hat. Sie streckt dabei ihre zu Fäusten geballten Hände nach vorn, auf ihren Fingern steht das Thema der Ausgabe: „Love“ und „Hate“. Untertitel: „Wer spielen will, muss fühlen.“

Dass die Emotionen nicht nur beim Spielen, sondern auch in der Diskussion darüber oft hochkochen, ist weitgehend bekannt. Doch so sehr manche Spielverderber aufgrund eines fundamentalen Irrglaubens Games-Kultur als ihr privates Vergnügen ansehen und sich entsprechend alterieren, wenn man ihnen nicht immer wieder ein und dieselbe Kost vorsetzt: Am Schluss wird die Freude über ungewöhnliche Spiele wie „Mirror's Edge“ bestehen bleiben – sowohl bei den Connaisseurs als auch beim Massenpublikum.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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