Von wegen Kinderspiel

Dame hat es schwer: Zu viele Vorurteile, zu viele Regelvarianten und zu häufige Unentschieden bedeuten wenig Nachwuchs. Nur in den Niederlanden, wo gerade die Weltmeisterschaft zu Ende gegangen ist, ist das Spiel weithin beliebt.

Dame gilt in Österreich als Kinderspiel, gerade noch gut fürs Kräftemessen zwischen Opa, Oma und Enkeln. Hier gibt es weder Dameverband noch Damevereine. Die Rangliste des Weltverbands FMJD weist keinen einzigen Österreicher aus. Anders ist das in Russland, den Niederlanden oder Brasilien: Dort nehmen Zehntausende an Turnieren teil, Zeitungen berichten über wichtige Wettbewerbe. Etwa über die vorigen Sonntag im niederländischen Enschede zu Ende gegangene Weltmeisterschaft in der international meistverbreiteten Damevariante auf zehn mal zehn Feldern.

Es war ein gutes Match, „vielleicht mein bestes“, sagt Alexander Schwarzman nach ein paar Tagen Abstand zur „Presse“. Mehr als zwei Wochen dauerte das Duell zwischen dem 41-jährigen Moskauer und seinem aus St. Petersburg stammenden Landsmann Alexander Georgiew. Der Titel winkte jenem Spieler, der zuerst drei Partien gewann. Doch keines ihrer zwölf Spiele mit langer Bedenkzeit hatte einen Sieger.

„Für Nichtspieler klingt das langweilig“, weiß Schwarzman, „aber es waren sehr interessante Partien. Dass alle remis ausgegangen sind, war meine Schuld.“ In zwei Partien habe er aus Nervosität einen analytisch nachweisbaren Sieg verpasst, in einer dritten, als Georgiew in kritischer Lage auch noch in Zeitnot schwebte, warf er zumindest gute praktische Siegchancen weg. Die Entscheidung musste bei verkürzter Bedenkzeit fallen. Schwarzman war pessimistisch, „weil Georgiew in Schnelldame besser ist“. Tatsächlich ging die erste Gewinnpartie an seinen jüngeren Herausforderer, doch Schwarzman glich aus. Und mit knapper werdender Zeit stiegen seine Chancen. Bei Dame ist es üblich, Entscheidungspartien mit 20 Minuten Bedenkzeit pro Spieler zu starten, nach jedem Zug kommen fünf Sekunden dazu. Die übrige Bedenkzeit kann in die nächste Partie übernommen werden. In dieser Blitzphase konnte Schwarzman seine Instinkte und seine größere Routine ausspielen.

Abseits des Brettes war es ein freundschaftlicher Vergleich. Oft gingen die Spieler essen, einmal sogar zusammen ins Schwimmbad, erzählt Schwarzman. 15.000 Euro ist der Titelgewinn wert. Es ist das höchste Preisgeld seiner Karriere. Seit 20 Jahren ist der 41-Jährige Profi. Einer von 50 bis 100 weltweit, wie er schätzt. – Die beste Zeit seines Spiels hat Schwarzman verpasst. Von ihr hat er nur durch Training und Turniermöglichkeiten als Jugendlicher profitiert. In der Sowjetunion bekamen Damemeister ein staatliches Gehalt. Lehrbücher wurden in hoher Auflage gedruckt. Damebretter gehörten zur Grundausstattung jedes „Pionierpalasts“. Heute interessieren sich kaum noch Kinder für sein Spiel, klagt Schwarzman. Immerhin darf er reisen. Sponsoren, die nennenswerte Preisgelder finanzieren, finden sich derzeit fast nur in den Niederlanden. Auch die dortige Liga lockt die Profis: 400 Euro erhält Schwarzman pro Ligaspiel. Den Flug muss er selbst zahlen.

Alle Weltklassespieler haben Dame zu ihrem Beruf gemacht. Mit einer Ausnahme: Mark Podolskij setzt auf eine wissenschaftliche Karriere als Mathematiker. Mit 15 aus dem russischen Elektrostal in die „Damewüste“ Deutschland übersiedelt, konnte er von Glück reden, dass sich seine Familie nicht allzu weit von der niederländischen Grenze niederließ. Vor zwei Jahren war er im niederländischen Hardenberg knapp davor, Weltmeister zu werden. Am Ende hatte er gleich viele Punkte wie Schwarzman, der allerdings eine Partie mehr gewann – und damit vorne lag. Trotzdem ist der Deutsche bis heute einer der größten Fans des Weltmeisters. „Schwarzman spielt sehr elegant und risikofreudig“, lobt Podolskij und attestiert ihm einen unschätzbaren kreativen Beitrag: „Er hat viele Eröffnungsvarianten erfunden.“ Außerdem lege Schwarzman die Partien nicht so konservativ an wie die ältere Generation, sondern habe Manöver eingeführt, die früher als zu riskant verrufen waren. Insofern war Podolskij angenehm überrascht, dass Georgiew im WM-Kampf ebenfalls spielerische Akzente setzte und nicht nur auf sein starkes Defensivspiel vertraute.

Die nächste Weltmeisterschaft steht bereits im September in Brasilien an. Nach dem Zweikampf ist wieder ein Turnier dran. Der Sieger erhält das Recht auf einen Zweikampf gegen Schwarzman. Falls der selbst gewinnt, ist sein Duellgegner eben Zweiter. Obwohl der Titelhalter so beeinflusst, wer sein Gegner wird, will ihm der Weltverband schon wegen der seltenen Chancen auf ein passables Preisgeld nicht die Teilnahme verwehren.

Das optimale Spiel geht remis aus

Podolskij dagegen wird nicht dabei sein. In der Finanzmathematik geht die Post ab, im Herbst stehen Konferenzen an. „Wenn ich in Form wäre, hätte ich eine Chance. Aber dazu müsste ich bis zur WM Turniere spielen – auch um die anderen Dinge aus dem Kopf zu kriegen“, erklärt Podolskij, warum er den Aufwand eines neuen Titelanlaufs scheut.

Um auf hohem Niveau eine Partie zu gewinnen, muss man voll konzentriert sein und beharrlich in jeder Spielphase Vorteile sammeln. Eröffnungszüge haben nicht die enorme Bedeutung, die ihnen im Schach zukommt. Das bestätigt Schwarzman, der neue Spielzüge gegen Georgiew erst bei verkürzter Bedenkzeit auspackte, weil dann die Chance auf eine falsche Reaktion größer ist.

Dame auf dem 100-Felder-Brett steht Schach an Komplexität kaum nach, doch die Remisbreite ist deutlich größer. Schwarzman begründet das damit, dass Weiß trotz des ersten Zuges keinen Vorteil habe und im Endspiel drei in Damen umgewandelte Steine nicht gegen eine einzelne Dame gewinnen. Ein paar kleinere Fehler könne man sich leisten, ohne zu verlieren.

Bei der in Russland sehr beliebten Spielvariante auf acht mal acht Feldern, in der Schwarzman ebenfalls zu den Besten zählt, müsse man exakter rechnen, weil ein Fehler oft alles entscheide. Um Wettbewerbe interessanter zu machen, werden dabei die ersten drei Züge (zwei von Weiß, einer von Schwarz) heute gewöhnlich durch das Los bestimmt.

Schwarzman nutzt Software für Analysen, „aber es gibt Stellungstypen, die der Computer nicht versteht“. Viele glauben über Dame zu wissen, dass Computer es perfekt beherrschen. Tatsächlich gelöst durch das kanadische Programm „Chinook“, das einen mächtigen Suchalgorithmus mit einer Datenbank von Endspielstellungen verknüpfte, bis sämtliche möglichen Spielfolgen analysiert waren (bei beidseits optimalem Spiel zum Remis), ist nur das nordamerikanische Checkers – eine von mehreren Dutzend Damevarianten.

Sie unterscheiden sich nach Brettgröße (64, 100 oder 144 Felder), ob Weiß oder Schwarz beginnt, gewöhnliche Steine nur vorwärts oder auch rückwärts schlagen, die größtmögliche Zahl geschlagen werden muss, Damen hinter einen geschlagenen Stein ziehen müssen und Damen nur von Damen geschlagen werden dürfen. Dass ein übersehener Schlagzug bestraft wird, indem der Stein vom Brett genommen wird, sieht indessen keines der Regelwerke vor. Das gilt nur im Wohn- und Kinderzimmer. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2009)

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