Treffer: Hör die Stille vor dem Klick!

War er dabei? Ja, es stimmt, er war dabei: Er, der Jüngere, war unter den Begleitern des Älteren bei dessen Besuch in der Hauptstadt des damals beinah benachbarten Landes (und heute tatsächlichbenachbarten Landes, denn auch Staatsgrenzen und Staaten halten ja nicht ewig).

War er dabei? Ja, es stimmt, er war dabei: Er, der Jüngere, war unter den Begleitern des Älteren bei dessen Besuch in der Hauptstadt des damals beinah benachbarten Landes (und heute tatsächlichbenachbarten Landes, denn auch Staatsgrenzen und Staaten halten ja nicht ewig). Und er war dabei sodann in dieser Minute des besonderen Ereignisses. „Aber was heißt das: Ich war dabei? Was erlebt man“, erinnert sich der Jüngere, „in der Menge stehend und abgedrängt von Sicherheitsbeamten?“

Jedenfalls, an jenem Dezembertag des Jahres 1970 geschah etwas außerhalb des Protokolls. Plötzlich wurde ein Bild gesetzt, ein eindringliches Bild, eine großeGeste wurde da gestaltet, nach der Kranzniederlegung. Ein Deutscher kniete nieder. Und es geschah völlig zur Überraschung auch seiner eigenen Begleiter, seiner Delegation. Handelte er allein für sich? Hatte er, der ehemalige Emigrant, Gründe, stellvertretend zu handeln? War er sich der Dimension seines Handelns bewusst?

„Ich erinnere mich“, so der Begleiter des Niederknienden, „an ein kurzes Erschrecken, an die Wahrnehmung: Unglaubliches geschieht. Dann herrschte nurnoch das Klicken der Kameras; die Welt nahm Notiz, und mein folgender Gedanke verlief bereits in ängstlichen Bahnen. Wie wird man in Deutschland des Kanzlers Geste verstehen? Ist nicht zu befürchten, dass sich die Meute seiner Feinde, die Springer-Presse voran, abermals auf ihn stürzen wird? Ängste, die ihren Nährboden hatten; war doch die Haltung diesesMannes, der den Rückfall der Deutschen in die Barbarei von Jugend an bekämpft hatte, der Anlass für seit Jahren anhaltende Verleumdungen gewesen.“

Unter anderem auch dafür – als Rückenstärkung gegenüber den Revanchistenund Verleumdern – erhielt er, der Kanzler und Sozialdemokrat, einer der großenStaatsmänner des Jahrhunderts, im Jahr darauf den Friedensnobelpreis. Ja, und er, der Jüngere (später ebenfalls Nobelpreisträger, diesfalls für Literatur), erinnert sich2004 an das Ereignis an jenem Dezembertag des Jahres 1970: „Jetzt, beim Schreiben, erlebe ich abermals jenen Schock, der meine ängstlichen Sorgen herbeigerufen hat – Sorgen, die geblieben sind, denn noch immer oder schon wieder erregt dieser Kniefall Anstoß.“ ■


Wer begleitete wen? Aus welchem Anlass besuchte die Delegation die Hauptstadt des beinah benachbarten Landes?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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